Gewiss hat dieser Neunzehnjährige aus dem amerikanischen Mittelwesten nie ein Wort von Jean Paul gehört oder gelesen; doch erlebt Vance Weston am eigenen jungen Leib, was der hochfränkische Nationaldichter so beschrieb: "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." Zum Einlass in die Gegen- und Überwelt der gehobenen Literatur wird ihm ein altes Haus am Hudson River, verlassen, doch beseelt, antiquiert, doch Standort einer erlesenen Bibliothek. Dort liest sich Vance bei alten Meistern wie Coleridge und Dante fest; und seine schlummernde Schöpferkraft verwandelt sich die Klassiker in einer Weise an, die ihn zum modernen Schriftsteller aufblühen lässt. Freilich wirkt der Schwärmer aus der Provinz im quirligen New York der 1920er-Jahre so wie das Haus überm Hudson: nicht der Zeit gemäß.

Als moderne Autorin wollte auch die heute vor 150 Jahren geborene Edith Wharton nicht gelten. In mehreren Sprachen daheim und höchst belesen, "wanderte" sie reisend aus der Neuen in die ferne Alte Welt, auf der Suche nach den "Sternen" der Schönheit, Meisterschaft, Vollendung (siehe auch "Zum Tage" oben auf dieser Seite). Davon zeugt ihr Roman "Ein altes Haus am Hudson River" von 1929, jetzt bei Manesse erstmals auf Deutsch erhältlich, auf anheimelnd altmodische, betont gediegene Art. Gleichzeitig weist das Buch die Autorin sowohl als Psychologin wie als Gesellschaftssatirikerin von höchst aktueller Zeitgenossenschaft aus - ein Werk des Spätschaffens, in dem Wharton ihren Ruf als lebensnahe Realistin mit idealistischem Anspruch bekräftigt.

Für ein "großes" Buch muss man ihren dickleibigen Roman nicht halten; ungeachtet aller Eleganz und Klugheit erlaubt Wharton etlichen Episoden arg viel Breite. Doch für derlei Geduldsproben entschädigen ihre intime Kenntnis der metropolitanen feinen Gesellschaft, ihre Lust an sarkastischer Entlarvung, dazu ihre schonungslosen Seitenhiebe auf einen wenig kunstsinnigen Buchmarkt, der Bücher und Autoren "groß" macht, sofern und so lange sie sich rentieren. Bei dem Geschäft geht es darum, möglichst früh aus einem Talent wie Vance Weston "jeden Tropfen herauszupressen", gemäß dem "Prinzip des raschen Umsatzes, das auf Gehirne genauso angewandt wurde wie auf Immobilien".

Ein doppelter Entwicklungsroman: Neben der zweifelhaften Erfolgsgeschichte Vance Westons, des ungeschliffenen Edelsteins, entwickelt Wharton auch den gewissermaßen gegenläufigen Weg der kultivierten Beauté Halo. In besagter Bibliothek wird sie zur Mentorin des Poesie-Novizen, "ein Wesen, das die Schlüssel zum Wissen besaß und es ihm zugänglich und reizvoll machen konnte"; für eine "Heilige" hält Vance sie und begehrt sie gleichzeitig. Als Gegen- und Unter-Welt unterm Geist-Reich der Poesie erfahren beide die Einsamkeit in der ernüchternden Alltagsrealität: Vance verheiratet sich mit der Kunst und der Armut, Halo mit Ansehen und der Ödnis des Reichtums. " 'Tja, das ist der Ruhm - wie gefällt er Ihnen?', neckte sie ihn."

Mit einer unseligen Ehe, einem Liebesverhältnis, den "Liederlichkeiten" des Literaturbetriebs hat Edith Wharton, die Romanautorin, die über einen Romancier schrieb, ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Und so erzählt die alte Dame, indem sie von einem jungen Mann erzählt, wohl auch über sich selbst: über einen dichtenden Menschen, der das Leben nicht zuletzt "als Stoffsammlung für seine Kunst" erträgt.

Michael Thumser

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Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River. Manesse-Verlag, 617 Seiten, gebunden, 26,95 Euro.