Hamburg Auf St. Pauli brennt noch Licht

Heike Kraske,
Sieht so die Zukunft der populären Musik aus? Das Publikum musste - wie hier beim Konzert der Electro-Pop-Künstlerin Novaa im "Village" des Reeperbahn-Festivals - in vorgezeichneten Quadraten stehen, um die Abstandsregeln einzuhalten. Foto: Reeperbahn-Festival/Fynn Freund Quelle: Unbekannt

Besser, als es das Reeperbahn-Festival in Hamburg vier Tage lang exerzierte, kann man Pop-Konzerte in surrealen Zeiten nicht umsetzen. Und doch wird sich die Club-Kultur so nicht über Wasser halten.

 
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Hamburg - Ganz klar, der Veranstalter hat seine Hausaufgaben gemacht. Die 15. Edition des unter normalen Umständen größten europäischen Club-Festivals erlebte nicht einfach nur eine Pandemie-gerechte Umsetzung. Die Hygiene-Vorschriften wurden auf St. Pauli buchstäblich zelebriert - man kann es nicht anders bezeichnen. Und die 8000 Besucher des Reeperbahn-Festivals - sonst kommen um die 50 000 - spielten mit. Ja, sie disziplinierten sich sogar eisern. Bei der Ankunft am Veranstaltungsort musste man sich, von Absperrgittern flankiert, zum Eingang bewegen. Die Maske aufsetzen. Einen Code abscannen, um sich digital zu registrieren. Die Hände desinfizieren. Auf den Platzanweiser warten. Das vorgezeichnete Einbahnstraßen-System nutzen. Die Abstandsregeln penibel einhalten. Am Schluss ausloggen. Dabei eine permanente Kontrolle der professionellen, doch freundlichen Securitys über sich ergehen lassend. Und beim nächsten Konzert das Ganze wieder von vorn.

Man konnte nur erahnen, wie viel Mühe im Detail in dieser akribischen Organisation steckte, die im Übrigen von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert wurde. Verteilt auf diesmal "nur" 20 kleinere und mittlere Spielstätten gab es seit Mittwoch rund 300 Events, davon etwa 140 Musikkonzerte. Und 600 Desinfektionsgeräte obendrauf.

"Auf St. Pauli brennt noch Licht" - die Zeile aus einem Jan-Delay-Song zitiert der Veranstalter in seinem Resümee: weil es gelang, "die positive Grundstimmung, die das Reeperbahn-Festival auszeichnet, auch in dieser besonderen Edition zu bewahren". Das war ganz sicher der Fall.

Dennoch. Kann solch ein ernüchterndes Prozedere wie das eingangs skizzierte eine Zukunft haben? Gerade im Rock- und Pop-Genre, das bekanntlich stark von körperlicher Erfahrung getragen wird: Menschenmassen, Enge, Hitze, Luftfeuchte, Stage Diving, Licht und Lärm. Die Antwort darauf versteht nur, wer sich in seinem Leben wenigstens einmal diesem Abenteuer ausgesetzt hat. Ein Erlebnis, das mehr darstellt als die Summe seiner negativ konnotierten Komponenten: ein Rausch, ganz legal.

Erstaunlicherweise brandete bei den Konzerten in Hamburg trotzdem ab und an so etwas wie Stimmung auf. Weil die Fans einfach so ausgehungert waren, dass sie wahrscheinlich auch zu Schreibmaschinengeklapper von der Bühne in rhythmische Extase geraten wären. Wobei "Extase" bei aneinander befestigten Stühlen oder auf dem Boden vorgezeichneten Quadraten dann doch wieder etwas relativiert gehört ... Man könnte es wohl so zusammenfassen: Singer-Songwriter-Auftritte gelingen auf diese Art irgendwie, Konzerte mit Punk-Bands eher nicht.

Dabei haben wir noch nicht einmal über die Wirtschaftlichkeit solcher Pandemie-Events und -Festivals gesprochen. Zweifelsohne könnte niemand auf längere Sicht Konzerte mit so wenigen Menschen kostendeckend, geschweige denn Gewinn abwerfend veranstalten. Damit ist schon mal klar, dass das Ganze keine wirkliche Zukunft besitzen kann. Jedenfalls keine Perspektive in einem wie auch immer gearteten, gewinnorientiert arbeitenden Privatsektor - so, wie er Jahrzehnte lang reibungslos klappte.

Was offenbar hervorragend funktioniert, wie viele von uns in den vergangenen Monaten auch am eigenen Leib verspürt haben dürften: Die dem Reeperbahn-Festival angeschlossene Konferenz-Sektion wurde fast ausschließlich virtuell durchgeführt. Das digital angelegte kostenpflichtige Programm für die Fachbesucher wurde von Menschen aus 37 Nationen genutzt, wie der Veranstalter mitteilt. Die Webinare, Sessions, Workshops und Showcases zeigten schon mit ihren Headlines auf, was der Zeitgeist an Themen vorgibt: "Deutsch-Rap verstehen, erklären und kritisieren" und "Die Macht der Playlisten" oder "Geschäftsmodell Podcast" - und leider auch "Konzertbranche: Stillstand im Mittelstand". Womit sich der Kreis schließt.

Ach ja, um Musik ging es natürlich auch noch. Da aber, Corona-bedingt, fast nur einheimische und mitteleuropäische Acts anreisen konnten, blieb die Auswahl doch sehr begrenzt - und dementsprechend auch der Erkenntnisgewinn: Vor allem überzeugten bereits semi-bekannte Acts wie die US-amerikanische Hip-Hop-Künstlerin Akua Naru und ihre perfekt zwischen Rap, Soul, Jazz und afrikanischer Weltmusik eingespielte Band. Naru erklärte dem erstaunten Auditorium, dass sie 15 Corona-Tests über sich ergehen lassen musste, um beim Festival dabei sein zu dürfen.

Überzeugen konnte natürlich auch eine längst größerem Publikum bekannte Band wie das Quintett Milliarden, das die Version 2.0 der Gruppe TonSteineScherben repräsentiert. Running Gag mit bitterem Beigeschmack bei so einigen Konzerten auf St. Pauli: die Ansage, das gerade zu hörende Live-Set sei Tour-Auftakt und Tour-Ende 2020 in einem.

Und doch ist man schlussendlich froh, nach einem halben Jahr überhaupt mal wieder Rock- und Pop-Konzerte erleben zu dürfen - auch wenn diese untypisch allesamt längst vor Mitternacht beendet waren. Denn trotz all der Umstände, die ganz bestimmt niemand Spaß gemacht haben dürften: Die Alternative wäre derzeit ... gar nichts.

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