Nordhalben – Im Selbstversuch hat er im dunklen Süden Kubas über Monate gelebt. Dabei drang er für ein Buchprojekt tief in die geheimnisvolle Welt der Naturreligion Santeria ein, nahm an blutigen Opferritualen teil. Auch durchstreifte er die unwegsame Bergwelt Zentralasiens auf 4000 Metern Höhe, um die Strapazen des Protagonisten seines nächsten Romans am eigenen Leib zu spüren. Aber dass das echte Abenteuer im Landstrich zwischen Bayern und Thüringen auf ihn wartet, damit hatte der Schriftsteller und Weltenbummler Matthias Politycki nun wirklich nicht gerechnet.

Bereits die Suche nach dem „Grünen Band“, das entgegen der gängigen Darstellung in den Medien meist nicht beschildert oder markiert ist, kostet viel Zeit und Nerven. Temperaturen von über 30 Grad, kaum Schatten und nirgends eine Chance, sich Wasser zu besorgen, machen die ersten beiden Wandertage von Regnitzlosau bis Nordhalben zum Wüstentrip. In ein bedrohliches Gewitter mit Starkregen und Hagel gerät Politycki im Bereich des thüringischen Lauenhain, nordöstlich von Nordhalben. Ein paar Stunden später, bei Steinbach, endet der Kolonnenweg irgendwann im Nichts, der Autor muss sich durch dichtes Unterholz kämpfen und durch ein ehemaliges Minenfeld schlagen. „Ich konnte mich nur noch an der Himmelsrichtung orientieren“, berichtet Matthias Politycki, als er am Abend mit verdreckter Kleidung und zerstochener Haut im thüringischen Probstzella ankommt.

Für das neue „Merian“-Magazin zum Thema Deutschland wurde der Schriftsteller beauftragt, zwei Wochen lang auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen dem Dreiländereck bei Hof und dem Brocken im Harz zu wandern und seine Eindrücke und Erlebnisse festzuhalten. Zur gleichen Zeit ging der Abenteurer Achill Moser in Travemünde in entgegengesetzter Richtung los. Beide sollen sich nun am Wochenende auf dem Brocken treffen – so der Plan.

1400 Kilometer zieht sich das Naturschutzprojekt „Grünes Band“, der Streifen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, durch die wiedervereinte Republik. Es ist ein lebendiges Denkmal deutscher Zeitgeschichte und gleichzeitig wertvoller Lebensraum für seltene Tier- und Pflanzenarten. Ein bisschen als „Reise in die Vergangenheit“ empfindet Politycki Nordhalben. Er freut sich über eine gelbe Telefonzelle, die er in der Schlossbergstraße entdeckt, und über eine mechanische gusseiserne Schreibmaschine, auf der der Wirt vom „Hotel zur Post“, Matthias Ströhlein, am Morgen die Übernachtungsquittung tippt. Nicht nur der Schriftsteller ist von dem alten Stück beeindruckt: „Merian“-Fotograf Philip Koschel, der Politycki auf mehreren Etappen begleitet, drückt begeistert auf den Auslöser seiner Kamera.

Matthias Politycki interessiert sich für die Menschen und ihre Geschichten. Das ist auf dieser Wanderung immer wieder zu spüren. Wenn ihm Leute entlang seines Weges begegnen, nimmt er sich Zeit für ein kurzes Gespräch und stellt ein paar Fragen. „Mit den Menschen zu reden, ist ein großer Teil meiner Wanderung. Ich möchte erkunden, wie es sich anfühlt, hier am ,Grünen Band“ zu leben.“ Zweifelsohne wird sein Beitrag über diese Reise literarisch sein. „Ein Schriftsteller muss nicht schreiben wie ein Reisejournalist“, erklärt der Autor. „Er wird kaum eine exakte Tourbeschreibung liefern, sondern eher versuchen, das Erlebte zu reflektieren und auf den Begriff zu bringen.“

Unterwegs bleibt Matthias Politycki immer mal wieder stehen und notiert seine Empfindungen in eine Kladde. „Das ist bei allen meinen Büchern und Gedichten so. Die entstehen immer vor Ort.“ Seinen Schreibtisch nutzt der Autor erst später, zum Ausformulieren seiner Werke. „Die kleinen Bruchstücke, die man direkt hier im Wald notiert, die atmen ein bisschen von dem Geist, der hier herrscht.“ Politycki glaubt daran, dass man vor Ort andere Worte für einen Text findet als nachträglich am Schreibtisch zu Hause. „Auch wenn diese Vorstellung vielleicht irrational ist.“

Lange lässt sich der Erzähler im Altvaterturm auf dem Wetzstein Zeit. Immer wieder schreibt er etwas in sein Notizbüchlein. Heimatvertriebene Sudetendeutsche haben diesen Nachbau eines berühmten Aussichtsturms im mährisch-schlesischen Sudetengebirge Anfang der 2000er-Jahre errichtet. Sie wollen damit an die Opfer der Vertreibung erinnern. „Ich bin jetzt echt platt. Auf dieses Thema war ich überhaupt nicht eingestellt“, gibt sich Politycki nachdenklich.

Der Weg führt weiter zu einem alten Bunker mit riesigen rostigen Eisentüren sowie zu einer ehemaligen Abhör-Station, die heute der Deutsche Amateur-Radioclub nutzt. Schon von Weitem ist ein gelbes Smiley zu sehen, das auf der großen Satelliten-Schüssel prangt. „Davon sehe ich das Foto schon im Heft“, meint der Schriftsteller und nennt das stilisierte lachende Gesicht an dieser Stelle eine „Ironisierung des Verbrechens“.

Auch Matthias Politycki hat das „Grüne Band“ erlebt, als es noch die innerdeutsche Grenze war. Seine Ferien hat er meist bei seiner Tante in Hof verbracht. „Bei Ausflügen haben wir über die Grenze geschaut.“ Der Autor weiß nicht mehr genau, wo das war – bei Hirschberg oder bei Mödlareuth. „Aber die Eindrücke sind mir total präsent, obwohl ich ein kleines Kind war. Wir haben Menschen gesehen, die waren nur hundert Meter von uns weg – und doch unerreichbar.“


Abenteuer am „Grünen Band“: Der Schriftsteller Matthias Politycki wandert derzeit an der ehemaligen innerdeutschen Grenze von Regnitzlosau zum Brocken. Foto: ah

Hofer Wurzeln

Matthias Politycki, 59, ist in München aufgewachsen, hat aber immer viel Zeit in Hof bei seinen Großeltern mütterlicherseits und seiner Tante verbracht. Er gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Der promovierte Philosoph hat Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays sowie Hörbücher publiziert und gilt als der Weltreisende unter den deutschen Autoren. Bekannt wurde er vor allem durch seinen „Weiberroman“ und seine Kreuzfahrtsatire „In 180 Tagen um die Welt“. Politycki lebt in Hamburg und München. Sein Beitrag für das „Merian“-Magazin erscheint im September-Heft „Deutschland“. ah