Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa hat auf der Leipziger Buchmesse ihr neues Werk "Gott ist nicht schüchtern" vorgestellt. Grjasnowa ist thematisch nach eigener Auskunft kaum festgelegt - aber ein Label klebt an der in Aserbaidschan geborenen Autorin: Migrationsliteratur. Im Interview erzählt sie, warum dieser Begriff getilgt gehört.


Sie sind mit elf Jahren aus Baku nach Deutschland gekommen. Da konnten sie kein Deutsch?

Genau. Ich habe das erst hier gelernt.

Was würden Sie Ihre Muttersprache nennen?

Ich finde den Begriff Muttersprache schwierig und würde mich eher an der Übersetzungswissenschaft orientieren. Dort wird in A-, B- und C-Sprache unterschieden, beziehungsweise Erstsprache und Zweitsprache und Drittsprache. Und Deutsch ist definitiv meine Erstsprache. Da fühle ich mich komplett zu Hause.

Es gibt viele junge Autoren, die auf Deutsch schreiben, obwohl sie die Sprache, so wie Sie, erst spät gelernt haben. Würden Sie sagen, dass sich das in der Literatur auswirkt?

Den Sprachwechsel in der Literatur gab es schon immer. Zum Beispiel war für die russische Klassik Französisch unglaublich wichtig. Viele Autoren haben erst Französisch gelernt und dann Russisch. Sowohl bei «Anna Karenina», als auch in "Krieg und Frieden" gibt es lange Dialoge auf Französisch, Englisch und Deutsch, die nicht übersetzt wurden. Nabokov hat seine Sprache gewechselt, Joseph Conrad auch. Wenn man sich heute den Anteil der Migranten in Deutschland anguckt, so ist es bei weitem nicht verwunderlich, dass auch ein paar schreiben. Aber nochmal: Das ist überhaupt nichts Neues.

Aber es wird zurzeit neu diskutiert.

Das ist etwas, das mich sehr stört. Allein schon der Begriff "Migrationsliteratur": Dieser ist leider ein sehr schwieriger. Es ist fragwürdig, rassistisch und paternalistisch. Migrationsliteratur in Deutschland ist stets die Literatur, die anders ist, die nicht dazu gehört, nicht bio-deutsch ist. Die einzige Gemeinsamkeit der Migrationsautoren ist übrigens ihre Herkunft und nicht etwa eine ästhetische oder thematische Gemeinsamkeit. Alle, wirklich ausnahmslos alle, die einen seltsam klingenden Namen haben oder deren Eltern oder auch sie selber nicht in Deutschland geboren worden sind, werden unter diesem unsäglichen Begriff zusammengefasst.
Ich hatte schon oft die Diskussion, ob man das am Stil nachweisen kann oder am Inhalt - und das ist noch niemandem gelungen. Die Thematiken von Terézia Mora, Sasa Stanisic, Nino Haratischwili oder mir sind so extrem unterschiedlich - aber trotzdem wird das in der Germanistik in ein einziges Seminar gepackt.

Nur weil sie alle ursprünglich nicht aus Deutschland kommen...

Ausschließlich. Und überhaupt: Was sind denn Migrantenthemen? Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, wurde mir eine Gruppe für Migranten angeboten. Aber mein größtes Problem war, dass ich 25 Kilo Übergewicht im achten Monat hatte. Ich hatte definitiv andere Sorgen! Ich glaube, Migration ist ein Modethema, in der Politik genauso wie in der Germanistik. Und der Begriff Migrationsliteratur ist ein politischer. Da wird etwas zusammengewürfelt, was meiner Meinung nach nicht zusammengehört.

Schaut man Ihre bisher erschienenen drei Romane an, so ist das räumlich weit gemischt. Sie sind mal in Russland, mal in Berlin, jetzt mit «Gott ist nicht schüchtern» in Syrien. Wie wählen Sie die Themen aus?

Oft ist es, was mich gerade beschäftigt. Manchmal auch ein persönlicher Spleen. Dann kommen die gesellschaftlichen Fragestellungen dazu, und was im Leben um mich herum passiert. Bei meinem aktuellen Buch ist es so, dass mein Mann aus Syrien kommt. Er ist 2013 nach Deutschland gekommen. So fügt sich eins zum anderen.

Wenn Sie die Debatte um Migrationsliteratur nervt - sehen Sie eine Lösung, wie man davon wegkommt?

Wenn man einfach den Begriff Migrationsliteratur streichen und Literatur übrig bleiben könnte. Es gibt in Deutschland dieses komische Verständnis, dass man auch in der dritten Generation noch Migrant ist. Meine Tochter hat einen angeblichen Migrationshintergrund. Obwohl sie in Deutschland geboren wurde, hier aufwächst und das deutsche Bildungssystem durchläuft.

Meinen Sie, das ist ein deutsches Problem?

Ich glaube, die Diskussion in den USA oder Großbritannien ist eine andere. Dadurch dass es in Deutschland immer noch das Abstammungsprinzip gibt, auch bei der Staatsbürgerschaft, ist es tatsächlich etwas sehr Spezifisches. Ich bin hier, seit ich elf Jahre alt bin, ich habe hier Abitur gemacht, ich bin alle Schritte gegangen, die vorgesehen sind, es ist eine komplette Mittelklassekarriere - und trotzdem werde ich immer unter Migrantenliteratur einsortiert. Aber hätte ich zwanzig Jahre früher publiziert, hätte man meine Werke in Seminaren zur "Frauenliteratur" behandelt.

ZUR PERSON: Olga Grjasnowa (32) wurde in Baku in der Sowjetunion geboren. Mit elf Jahren kam sich mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte am Leipziger Literaturinstitut. Ihr aktuelles Buch "Gott ist nicht schüchtern" ist im Aufbau Verlag erschienen.