Bayreuth Bayreuther Festspiele: Luftkampf mit der Lichtgestalt

Michael Thumser
Das "Lohengrin"-Ensemble auf der Bühne - Bühnenbild und Kostüme hat das Künstlerpaar Neo Rauch und Rosa Loy gestaltet. Mit der Neuinszenierung der Richard-Wagner-Oper "Lohengrin" begannen am Mittwoch die Bayreuther Festspiele 2018. Foto: Enrico Nawrath/Festspiele Bayreuth/dpa Quelle: Unbekannt

Ein neuer "Lohengrin" am Festspielstart: Wagnertenöre mit Stehvermögen sind weltweit rar. In Piotr Beczala hat Bayreuths Grüner Hügel endlich wieder einen Star.

 
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Bayreuth - Manche hier können fliegen. Kein Wunder: tragen sie doch Flügel auf den Rücken. Zwar kriegt Lohengrin, Titelheld in Wagners "romantischer Oper", sein Paar erst später umgeschnallt. Aber in die Luft, buchstäblich, geht er doch. Mit Telramund, dem Übelmann, kämpft der Fremdling aus der Gralswelt gut drei Meter überm Bühnenboden des Festspielhauses. Und weil er für eine verfolgte Unschuld streitet - Elsa, als vermeintliche Mörderin ihres Bruders Gottfried, krümmt sich schon im Qualm des Scheiterhaufens -, siegt Lohengrin natürlich: eine Lichtgestalt. Vom Gegner Telramund ist der Lack ab; einen Flügel büßt er ein und ist nun bestenfalls nur noch ein halber Mann.

In Brabant tummeln sich merkwürdige Mischwesen. Den Aristokraten hängen dünnhäutige Tragflächen von den Schultern, als wären sie Insekten. Sind sie Libellen, also ziemlich edle Tiere? Oder Fliegen: nur Geschmeiß? An den vorigen Bayreuther "Lohengrin", in der Regie von Hans Neuenfels, erinnert sich der Hügel-Stammgast: Damals überrannte eine Herde Ratten die Bühne und brachte ein Stück Parodie ins Spiel. Am Mittwoch, bei der Premiere der Neuinszenierung, geschah wiederum Verwunderliches. Warum auch nicht? Als Märchenoper geht Richard Wagners Stück gut durch. Und das Regieteam - der Maler Neo Rauch mit Gattin Rosa Loy als Ausstatter und Regisseur Yuval Sharon, vom Duo inspiriert - setzen vorsätzlich "romantisch" noch eins drauf: Sie wollen, sagen sie, zur "Wiederverzauberung der Welt" beitragen.

Aus der Flächigkeit der Malerei mussten Rauch und Loy in den (Bühnen-)Raum eintreten; das Verspielte ihrer ebenmäßigen Sujets galt es in Spiel zu wandeln. Zwei Bilderwelten verschränken die beiden dafür ineinander. Zum einen zitieren sie historisierend die Malerei der Niederlande im 17. Jahrhundert, mit wetterwendischen Wolken, mit Baum- und Strauchwerk auf dem dunkelgrauen Rundhorizont und den Kulissen. Breitbeinig stehen hier die Herren des - von Eberhard Friedrich fast durchweg felsenfest und voluminös einstudierten - Chors herum, als Brabanter Biedermänner in Kniehosen und Samtjacken, während die Frauen hausfraulich Kopftuch und Schürze tragen. Diese noch recht frühneuzeitliche Sphäre durchdringt gegensätzlich eine Moderne kurz nach der Elektrifizierung. Ein Bauwerk, auf die ersten Blicke ein Kathedralen-Portal, offenbart sich dank Hochspannungsmast, reichlich Draht und Isolatoren als Umspannwerk.

"Energie" bringt Lohengrin als Herr der Funken und Blitze in Neo Rauchs rauchgraue Tristesse. Zwar befeuern seine Stromstöße das lähmend Zeremoniöse in den Bühnensymmetrien nicht. Doch den Brabantern wird immerhin Kraft und Farbe zuteil: bläuliche Wolkenhelle, golden leuchtendes Orange. Die Adligen - angeführt vom grandiosen Georg Zeppenfeld als wahrhaft souveränem König und Egils Silins, einem Heerrufer mit satten Befehlstönen -, sie erheben Lohengrin kraft angehängten Flügelpaars zu einem der ihren. Freilich, das Glück ist eins auf Ab- und Widerruf.

Viel mehr als Richard Wagners Stoff ungewohnt zu illustrieren, vermag die Inszenierung nicht. Aber als Lichtgestalt taugt Lohengrin bis zum Ende, Wunder vollbringend: Mit Piotr Beczala singt endlich wieder ein Wagner-Tenor von Weltrang auf dem Grünen Hügel. Strahlkräftig glänzt der polnische, wie alle Sänger mit Beifall überschüttete Künstler in den Höhen, aber er flüstert auch, so am Beginn der Gralserzählung.

Aus Monteur, Märchenprinz und Superheld des Marvel-Universums mischt sich dieser Gralsgesandte und gibt dabei energetische Impulse ritterlicher Tugend und Untugend frei. Sogar eine Prise warmherziger "Italianita" bringt Beczala durch leichte Schluchzer ein, und rund ums Hochzeitsbett - vor einem stramm aufragenden Überspannungsableiter - wirbt er zunächst berückend um Elsa; bis er ihr, indem er sie festbindet, Gewalt antut. Da hat Anja Harteros - die Eintagsfliege als Eintagesbraut - aus der Blässe ihrer ersten Szenen längst herausgefunden: Vielfältig facettiert sie die Aufwallungen ihres Herzens, selbstbewusst Charakter zeigt die Stimme und kann vor Schmerz ersterben.

Zur "Verzauberung" findet selbst Christian Thielemann nicht gleich. Das erste Vorspiel dachte sich der Komponist wohl schwebender und mysteriöser. Grundsätzlich aber bewährt sich der Musikchef im Orchestergraben bei seinem Bayreuther "Lohengrin"-Debüt neuerlich als Mischer feiner Farb-Valeurs und als versierter Spannungsdramaturg. In kalkulierte Bewegung hüllt er auch das Verräter-Paar Ortrud und Telramund ein: den ätzend scharfen Tomasz Konieczny und die - auch im Wortsinn - fesselnde Waltraud Meier. Dass die fünf Protagonisten in ihrer Ensemble-Passage des ersten Aufzugs, den tonalen Halt verlierend, sich schräg ins harmonisch Unbestimmbare verirren, vermag auch Thielemann nicht abzuwenden.

Das "nicht mehr Bestimmbare", wie Neo Rauch und Rosa Loy es in der Kunst verlangen, stiefelt zum fragwürdigen Schluss als leibhaftiges Rätsel herein: der angeblich ermordete Gottfried als spezifisch ostdeutsche Lichtgestalt - knallgrün als Ampelmännchen. Welches Etikett Bayreuths neuer "Lohengrin" auch verdient, Retro-Aktion oder Energiewende: Jetzt ist's eine Persiflage.