WAISCHENFELD – Einst wurde in der Pulvermühle wirklich Pulver, Schießpulver gemahlen. Wie es sich gehört, flog das Anwesen, bei Waischenfeld im Tal der Wiesent gelegen, denn auch 1806 in die Luft. Gut anderthalb Jahrhunderte später heizte sich der Schauplatz, jetzt Gasthaus, mit einer explosiven Atmosphäre von anderer Art auf: Am 5. Oktober 1967 kamen etwa siebzig links orientierte Literaten zusammen, um hier, in der Fränkischen Schweiz nicht weit von Bayreuth, den Stand der Gegenwartsdichtung zu ermitteln. Dem „Stress der Öffentlichkeit“ hatte Hans Werner Richter, der einladende Gründer und Mentor jener Gruppe 47, ausdrücklich entkommen wollen. Doch die Wirklichkeit – brisant aufgeladen durch die Politik der Großen Koalition, durch Schah-Besuch und Vietnamkrieg, die rebellische Wut der Jugend –, sie folgte den Autoren in ihre Klause nach.

Protestierend rückten Studenten aus dem nahen Erlangen an, schwenkten Transparente, verbrannten in einem Obstgarten Broschüren, störten und verstörten die Dichter per Megafon mit der Forderung, sich auf die proletarischen Ziele des Klassenkampfs zu besinnen. Sichtbar brachen nun in der Runde verdeckte Risse auf. Als man, nach Zwist und Versöhnung, auseinander ging, stand das Ende der Vereinigung fest. Ihre Selbstauflösung zehn Jahre später in Saalgau war nur mehr expliziter Vollzug, Epilog.

Vierzig Jahre liegt jene Waischenfelder Wende heuer zurück; und sechzig Jahre die Formierung des rasch wachsenden, wechselnd besetzten Gremiums, das sich nach seinem Gründungsjahr nannte. Vorbilder gab es: so die „Gruppe 1925“ mit den Herren Döblin und Roth, Toller und Tucholsky. Im Juli 1947 sammelte Hans Werner Richter am Bannwaldsee bei Füssen im Allgäu die Redakteure und Autoren um sich, die bis vor Kurzem mit ihm und Alfred Andersch an der kurzlebigen, von den US-Militärs verbotenen Zeitschrift Der Ruf gearbeitet hatten. Streitbar, doch zwanglos lasen sie einander aus neuen Manuskripten vor. Und man kam überein, sich wieder zu treffen.

Denn man spürte, wichtig zu sein im westlichen Deutschland, über dessen Orientierung nichts Endgültiges entschieden war, das dennoch schon anfing, sich bei krisenhaft anspannender Weltlage der Reaktion zuzuneigen – und das damit begonnen hatte, jüngste Vergangenheit zu beschönigen, zu verdrängen oder gar fortzusetzen. Ein Breitenbewusstsein für Demokratie wollten die jungen Autoren in der alsbald restaurativen Adenauer-Republik verankern, Literatur als Funktion der Gesellschaft proklamieren, den von den Nazis unterbundenen Kontakt mit der Avantgarde zurückgewinnen – und dabei von Null ausgehen; denn alle Tradition schien ihnen verdächtig. Schnell formierte sich so eine international wieder ernst zu nehmende (west-)deutsche Sprachkunst.

„Die Gruppe 47 hat keinen Vorsitzenden, keinen Kassenwart“, gab Hans Magnus Enzensberger zu bedenken, „sie hat keinen Sitz und keine Satzungen. Kein Ausländer kann ermessen, was das bedeutet in einem Land, wo noch der professionelle Massenmord ohne Aktennotizen nicht betrieben werden kann.“ Als eine Art intellektueller Kaffeerunden ereigneten sich die erst halbjährlichen, dann jährlichen Zusammenkünfte. Freilich erging Richters Einladung weder an saturierte Gefälligkeitspoeten noch an feinnervige Schwarmgeister, sondern an „politisch engagierte Publizisten mit literarischen Ambitionen“: an Böll und Bachmann, Walser und Grass, Johnson und Jens, Hildesheimer und Handtke, Kästner und Kluge, Weiss und Rühmkorf …

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, gleichwohl unter deren bald wachsender Anteilnahme, betrieben sie Kreativität als dialektischen Austausch. Unter ihren Erkenntnismitteln stand Kritik obenan (auch heutige Alt- und Großkritiker wie Karasek, Reich-Ranicki, Joachim Kaiser nahmen an den Begegnungen teil). Wer vorzulesen aufgerufen war, nahm auf einem „elektrischen Stuhl“ Platz. Verstummte er, eröffneten die anderen – nicht nur aus dem Kopf, auch aus dem Bauch heraus argumentierend – sogleich die Debatte. Nicht selten geriet ihr Urteil zum schonungslosen Verriss.

Eins war jenes Ritual nicht: fair. Doch wer die Folterung überstand, durfte mit Kontakten zu Verlagen und Rundfunkanstalten rechnen. Denn Richter fungierte als Impresario, Verbindungsknüpfer, Literaturagent. Von 1950 an verlieh die Gruppe auch eine Auszeichnung, so 1958 an Günter Grass für den Auftakt zur „Blechtrommel“. In seinem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“ erzählt der bekennende Genussmensch und Kulinariker, er habe sich für die 4500 Mark Preisgeld zunächst einmal einen Plattenspieler und eine Kalbsleber gekauft.

Als die Literatur in Deutschland noch „ohne Hauptstadt“ auskommen musste, war die Gruppe, einem schönen Diktum Enzensbergers zufolge, ihr „Zentralcafé“. Indes fehlte es an Angriffen gegen sie nicht: Die selbstgerechte Meinungsdiktatur einer „Reichsschrifttumskammer mit anderen Mitteln“ hielten Gegner ihr vor, elitäre Draufsicht auf Innere Emigranten und andere, die nicht dazugehören durften oder wollten. Ausgeschlossen blieben politisch belastete Autoren ebenso wie konservative oder religiös inspirierte. Manche, wie Arno Schmidt oder Wolfgang Koeppen, verweigerten sich.

Allmählich kam der Gruppe die Gelöstheit und Freiheit abhanden. Zur Institution hatte sie sich verfestigt und sich beengend auf den Einfluss von Geldgebern und anderen Außenstehenden eingelassen. Die Zersetzung verlief schleichend: Explosiv mag die Stimmung 1967 gewesen sein; eines großen Knalls bedurfte es in Waischenfeld nicht, um den Zerfall zu besiegeln.

Grass – der nach jener Tagung ins Gästebuch der Pulvermühle Lobendes über die dort verzehrten Klöße eintrug – hielt 1979 in seiner Meistererzählung über „Das Treffen in Telgte“ auf höchst anmutige, zugleich nachsichtig heitere Weise Rückschau: Verfremdend fabuliert er von einem Konvent zerstrittener, doch gemeinschaftlich hungriger und trinkfester Barockschriftsteller vor dem Hintergrund des endenden Dreißigjährigen Kriegs: eine Gruppe 1647. So ironisch wie achtungsvoll porträtiert er den alten Mentor Richter als Simon Dach; und bekennt sich zur Kulturnation wie auch zur kulinarischen Seite der Poeterei: „Wie gut, dass noch immer vom rheinischen Braunbier genug war. Die Dichter waren bald über den Suppenstreit hinweg und bissen sich an Sprachgebilden fest: genügsame Wortwiederkäuer, denen notfalls Selbstzitate Sättigung brachten.“