Hof - Die Trauer war gewaltig und überwand die Grenzen Britanniens schnell. In London gingen Menschen gesenkten Hauptes und mit Trauerflor am Arm einher. Aus dem In- und Ausland trafen Protestnoten ein. Mehr als 20 000 Leser des Strand Magazine kündigten entrüstet ihre Abonnements. In jener Zeitschrift hatte der berühmteste Detektiv aller Zeiten die meisten seiner Fälle gelöst. Nun war er tot: Sein geistiger Vater, Arthur Conan Doyle, hatte ihn 1893, beim Ringen mit dem Erzfeind Professor Moriarty, in den Schweizer Reichenbachfall abstürzen lassen und in den wilden Fluten versenkt: "Der letzte Fall".

Und doch war's der letzte nicht. Zwar nahm der Autor sich Jahre Zeit; dann aber durfte Holmes auferstehen und zu neuen brillanten Taten schreiten. Doyle (kleines Bild), jetzt zum Sir geadelt, hatte erkannt, dass seine Figur sich von ihm und der Fiktion gelöst hatte und Teil englischer Wirklichkeit geworden war: "Viele halten Holmes für eine reale Person", bekannte der Schriftsteller. "Aus aller Herren Ländern erhalte ich Post, teils an ihn adressiert. Unlängst war sogar ein Heiratsantrag für ihn darunter."

Dabei mochten sich Autor und Held gar nicht besonders. Doyle glaubte seine Kräfte vergeudet, schlug sein Ehrgeiz doch immer dringlicher andere Wege ein: Lieber sah er sich als "seriösen" Erzähler, als Kriegsberichterstatter, als Verfasser von Arbeiten zur Historie. Später, nachdem er seine (erste) Frau verloren hatte und sein Sohn im Weltkrieg gefallen war, wandte er sich mehr und mehr dem Spiritismus zu.

Vom Erfolg des unschlagbaren Verbrechensaufklärers, der sich ausschließlich dem Diesseits und der exakten Wissenschaft verpflichtet fühlt, war Doyle selber überrascht. Bis zu seinem Herztod am 7. Juli 1930 hatte er mit vier Romanen (darunter dem berühmtesten, "Der Hund von Baskerville") und 56 Erzählungen um Sherlock Holmes Millionen eingenommen.

28 war er, als die Erfolgsserie begann. 1859, am morgigen Donnerstag vor 150 Jahren, kam Arthur Conan Doyle in Edinburgh zur Welt. Der Mutter wohl verdankte er sein Fabuliertalent. Zum unmittelbaren Vorbild seines Meisterdetektivs erwählte er als Medizinstudent in seiner schottischen Heimatstadt Dr. Joseph Bell; bei Krankengesprächen hatte er den Professor beobachtet, wie er sich einen Spaß daraus machte, aus scheinbar nebensächlichen Details im Wesen, an Körper oder Kleidung eines Patienten zutreffende Schlüsse auf dessen Herkunft, Tätigkeit und Lebenslauf zu ziehen. So auch macht es Sherlock Holmes; wie er es macht, legt er nachsichtig seinem "lieben Watson" offen, einem treuen Freund und ziemlich faulen Doktor der Medizin, der in Einfalt und Ehrerbietung die Geniestreiche seines Idols ausschmückend niederschreibt.

Gemeinsam bewohnen sie das Haus Nummer 221 b in der Londoner Bakerstreet. Hier geht Holmes wissenschaftlichen Experimenten oder dem Müßiggang nach, spielt recht ordentlich Geige, versagt sich das Laster gelegentlichen Rauschmittelgenusses nicht - und empfängt Damen und Herren, die nach geheimnisvollen Vorkommnissen Rat und Schutz suchen. Sie kommen dem Genie gerade recht: "Mein Leben ist eine einzige große Anstrengung, den Gewöhnlichkeiten der Langeweile zu entrinnen. Solche kleinen Denkaufgaben helfen mir dabei."

Keineswegs immer geht es um Mord und andere Kapitalverbrechen. Nicht die Schwierigkeit eines Problems, sondern seine Rätselhaftigkeit reizen den rechenmaschinenartigen Intellekt des Analytikers; nicht Menschen - und schon gar nicht Frauen - interessieren den zynisch-arroganten Hagestolz, sondern ihre Taten; nicht ihre Vorzüge gehen ihn an, nur ihre Abgründe. So wendet er sich mit gleicher Leidenschaft einem Tötungsdelikt oder einer Entführung zu wie der Wiederbeschaffung von Diebesgut, der Verhinderung eines Bankeinbruchs oder der Vermeidung von gesellschaftlichen Skandalen, wenn er nicht gar, im Kontakt mit allerhöchsten Regierungskreisen, England und Europa vor einem kontinentalen Krieg bewahrt. Neben Holmes sieht die beamtete Polizei meist ziemlich alt und albern aus, darf sich aber oft mit seinen Federn schmücken.

Anders als sein literarischer Vorläufer, Edgar Allan Poes Detektiv Auguste Dupin, gelangt er nicht allein kraft der Gaben seines abstrakten Verstandes ans Ziel. Holmes sucht - angetan mit einem karierten Wettermantel und der unverwechselbaren Deerstalker-Mütze, die Pfeife im Mund, gern aber auch Maske machend bis zur Unkenntlichkeit - umtriebig Schauplätze und Menschen zu minutiöser Beobachtung auf. Nicht vor Recht und Gesetz, nur vor der eisernen Gesetzmäßigkeit seines Weltbilds rechtfertigt er sich: Jedes Detail taugt als Verweis auf einen eindeutigen Zusammenhang, der sich unzweifelhaft dem offenbart, der alle Zeichen und Indizien fehlerfrei aussondert, erfasst und auslegt. Ganz dem Positivismus des 19. Jahrhunderts ist die Methode geschuldet. Für Übernatürliches findet sich darin kein Platz.

Kampf der Genies

Seither folgen dem Idol zahllose eigenwillige oder epigonale Detektive in Büchern und Filmen. Mit Hercule Poirot ersann Agatha Christie nicht nur einen Jünger, sondern mit Miss Jane Marple auch ein weibliches Pendant. Zugleich rüstete die Verbrecherwelt auf: Den genialen Kriminalisten traten alsbald ebensolche Schurken, Gefolgsleute des Professors Moriarty, in den Weg.

In über 50 Sprachen wurden Doyles Holmesiaden übersetzt. Vom Magazin, das 1887 den ersten Fall, "Eine Studie in Scharlachrot", verbreitete, gibt es nur mehr 28 Exemplare. Vor fünf Jahren wurde eines in New York versteigert: eine bessere Art von Groschenheft, das indes 150 000 Dollar brachte. Doyle, als Anfänger, musste den Kurzroman noch für 25 Pfund losschlagen; und ursprünglich sollte es bei dem einen Titel bleiben.

Der Deutsche Taschenbuch-Verlag veröffentlichte eine Auswahl von sieben Sherlock-Holmes-Geschichten, ergänzt durch einen tabellarischen Lebenslauf Arthur Conan Doyles (dtv 13755, 240 Seiten, kartoniert, 8,90 Euro).