Frau Grjasnowa, Sie wurden als "Hoffnung der deutschen Gegenwartsliteratur" bezeichnet. Wie fühlt sich das an?

Das bin ich definitiv nicht. Ich sehe mich in erster Linie als deutschsprachige Autorin. Im Moment bin ich in der sehr privilegierten Situation, dass ich vom Schreiben leben kann. Und ich hoffe, dass mir dieser Luxus erhalten bleibt.

Sind Sie gespannt, wie Ihr zweiter Roman von der Kritik und von den Lesern aufgenommen wird?

Ich habe grundsätzlich Angst vor der Kritik, obwohl ich an drei unterschiedlichen Schreibschulen war und eigentlich daran gewöhnt sein müsste. Trotzdem habe ich bei meinem ersten Buch die Besprechungen anfangs gar nicht gelesen. Ich bin natürlich jetzt gespannt, ob mein zweiter Roman gut aufgenommen wird. Ich habe immer das Gefühl, ich muss möglichst schnell mit dem nächsten Buch anfangen, um das vorhergehende wieder zu glätten. Aber: Kritik ist auch sehr wichtig.

Wie akribisch muss man für so einen vielschichtigen Roman recherchieren?

Ich liebe die Recherche. Das macht mir noch viel mehr Spaß als das Schreiben. Ich habe mich immer wahnsinnig fürs Ballett begeistert, das hat mich immer fasziniert. Der neue Roman war jetzt praktisch die Entschuldigung, mir ein halbes Jahr lang jede Ballettaufführung anzuschauen, mir sämtliche DVDs über Ballerinas zu bestellen und ins Staatstheater zu gehen, um die Proben zu beobachten.

Haben Sie noch Sehnsucht nach Baku? Kommt deshalb Aserbaidschan in Ihren Romanen vor?

Ja und Nein. Ich glaube, bei meinem ersten Roman hatte ich auf alle Fälle noch eine große Sehnsucht nach Baku. Ich wollte wieder hinfahren und mich mit dem Land auseinandersetzen. Dabei wollte ich vor allem in die Geschichte gehen. Jetzt hatte ich wieder das Gefühl, noch mal in die zeitgenössische aserbaidschanische Republik reisen zu müssen. Ich wollte mir zudem anschauen, wie es in Georgien und Armenien aussieht. Ich hoffe aber nicht, dass es beim dritten Buch wieder um diese Gegend gehen wird.

Was ist für Sie Heimat?

Das weiß ich nicht. Ich glaube, ein Staat, der mich in Ruhe lässt und mir meine staatsbürgerlichen Rechte garantiert. Und so ein bisschen Demokratie wäre auch ganz nett.

Im Buch heißt es: "Man braucht nicht auf die Midlife-Crisis zu warten, man kann sein Leben auch schon mit Mitte zwanzig wunderbar gegen die Wand fahren." Kennen Sie dieses Gefühl?

Ja, ich hatte schon solche Momente. Es war jedoch letztendlich nicht so dramatisch. Aber ich hatte schon Phasen, wo ich dachte: Was mache ich hier? Zwar ging alles irgendwie vorüber. Doch dieses Gefühl war auf jeden Fall sehr inspirierend.

Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Bei der Recherche zum ersten Buch hatte ich das Gefühl, dass es noch so viel mehr zu erzählen gibt, was keinen Platz mehr gefunden hat. Ich habe mir jetzt zugetraut, in die zeitgenössischen Zustände und Alltäglichkeiten zu gehen.

Alle drei Hauptfiguren sind bedürftig, allen fehlt der Halt. Alle sind auf der Suche. Doch weder im Westen noch im Kaukasus werden sie fündig. Was fehlt ihnen?

Alles und Nichts. Materiell haben sie alle Freiheiten. Die Geschichte spielt auch ganz viel mit diesem Mythos von Fariduddin Attar "Die Reise nach dem Simurgh", wo es 30 Vögel gibt, die sich auf die Suche machen. Man sucht immer nach irgendetwas, das man nicht benennen kann.

Alle drei Charaktere Ihres Romans glauben von sich, aufgeklärt und tolerant zu sein. Trotzdem gibt es Eifersucht und Besitzansprüche. Warum klappt diese offene Dreierkiste nicht?

Weil sie das eben nur von sich selber glauben. Beispielsweise hält sich Altay für wahnsinnig tolerant und für weltmännisch. Letztlich ist er so spießig, dass er es nicht zulassen kann, dass jemand seinen geputzten Boden mit Straßenschuhen betritt. Leyla kann es nicht ertragen, dass jemand zu viel isst und nicht auf seinen Körper achtet. Ich glaube, jeder von ihnen hat sehr große Unzulänglichkeiten, und die Toleranz ist bei allen dreien Fassade.

Welcher Ihrer Helden ist Ihnen am sympathischsten?

Wahrscheinlich Leyla, obwohl ich mit der nicht im gleichen Raum eingesperrt sein möchte. Ich kann die Frage nicht genau beantworten, weil ich alle drei zwar mag, aber auch alle drei nicht verstehen kann. Diese Figuren sind sehr weit von mir entfernt.

Werden Sie vom Handeln Ihrer Figuren überrascht?

Meistens bin ich froh, wenn sie überhaupt irgendetwas machen. Ich gehe von den Figuren aus und mir fehlt eigentlich immer die Handlung. Der Arbeitsprozess dauert drei Jahre, ein Jahr Recherche und zwei Jahre zum Schreiben. In dieser Zeit entwickelt sich etwas, womit ich am Anfang nicht gerechnet habe. Oder was ich mir am Anfang so gut zurecht gelegt hatte, geht einfach nicht auf.

Das Interview führte Andrea Herdegen

Buch und Autorin

Olga Grjasnowa, geboren1984 in Baku/Aserbaidschan. Mit elf Jahren kamen sie und ihre Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Hessen. Studium der Kunstgeschichte und Slawistik, dann Wechsel ans Deutsche Literaturinstitut Leipzig. Nach Aufenthalten in Polen, Russland und Israel Studium der Tanzwissenschaft in Berlin. Für ihr Debüt "Der Russe ist einer, der Birken liebt" wurde ihr 2012 der Klaus-Michael-Kühne-Preis und der Anna-Seghers-Preis verliehen. In ihrem neuen Roman "Die juristische Unschärfe einer Ehe" erzählt sie von zwei Frauen und einem Mann, die von Liebe träumen, aber nicht wissen, wie man Liebe lebt.

-----

Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe, Carl-Hanser-Verlag, 264 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.