Kain - so hieß der junge Mann, der seinen Bruder Abel erschlug. Dennoch: Kain nannte Erich Mühsam eine Zeitschrift, die er der Menschlichkeit widmete. Ab 1911 gab er sie heraus, bis zum Jahr des Ersten Weltkriegs, gegen den er sich erbittert wehrte; so sehr, dass er als Kriegsdienstverweigerer sechs Monate Festungshaft in Kauf nahm.

Nicht die einzige Gefangenschaft: In Traunstein internierte die Obrigkeit den radikalen Sozialisten 1918, nachdem er zu Streiks aufgerufen hatte. Auf fünfzehn Jahre Festung lautete im Jahr darauf das Urteil gegen den anarchistischen Aufrührer nach dem Zusammenbruch der Münchner Räterepublik; gut fünf Jahre saß er ab. Auch nach der Amnestie agitierte er weiter gegen die staatstragende Spießerschicht, die unbelehrbar nach einem starken Militär und Staat und Führer schrie; und freilich, den Demokraten, auch den Sozialdemokraten, gewann er genauso wenig ab.

Als er heute vor achtzig Jahren das Leben ließ, von Aufsehern im Konzentrationslager Oranienburg bei Berlin zu Tode geprügelt, war der Dichter 56 Jahre alt. Denn das war Mühsam auch: Dichter; wenngleich kein Poet blondlockiger Schöngeistigkeit. 1878, in Berlin, kam er zur Welt. Da brachte Kanzler Bismarck gerade im Reichstag jenes Gesetz durch, das sozialistische und sozialdemokratische Organisationen aufhob. Mit siebzehn flog Erich, in Lübeck aufwachsender Sohn eines jüdischen Apothekers, vom dortigen Katharinen-Gymnasium - "sozialistischer Umtriebe" wegen; an eine liberale Zeitung hatte er delikate Schul-Interna lanciert.

"Meine Pflicht", sang Mühsam im Gedicht, "heißt Gegenwart." Und die schöpfte er auf seine Weise reichlich aus. Auf seine Weise heißt: aller Anpassung feind ("Sich fügen heißt lügen"), in seiner "Staatsverneinung" radikal. Grandios spöttische, revolutionär pathetische, auch verquast symbolistische Gedichte verfasste er, auch Theaterstücke wie das Arbeiterdrama "Judas" oder "Staatsräson" über die US-Anarchisten und angeblichen Raubmörder Sacco und Vanzetti. Zum Star wuchs er auf den Kabarett-Brettern in Berlin und München auf und riet doch mahnend: "Sind einmal meine Worte sarkastisch und voll lauten Lachens - schaut unter die Maske, und ihr werdet grimmen Ernst erkennen."

Reichlich heißt: Er ließ nichts aus; schon gar keine Frauen, wobei er sich schon mal einen Tripper einfing, was er missmutig in die Tagebücher eintrug; der Berliner Verbrecher-Verlag ediert sie als einzigartiges Zeitdokument. Zu Mühsam gehören zwei Schlagwörter wie die Ärmel seines abgetragenen Gehrocks, die Funkelgläser seines Zwickers: Boheme und Anarchie. Ziemlich auf eines läuft beides hinaus.

Die "künstlerische Boheme", gerade auch wegen der offenen "Formen ihres Liebeslebens", gab ihm ein "Schulbeispiel für die Möglichkeit freiheitlicher Weltgestaltung". Boheme stand für die grundsätzliche "Skepsis in der Weltbetrachtung, die gründliche Negation aller konventionellen Werte, das nihilistische Temperament". Schroff, ja "fanatisch" lehnte er das Philistertum und überhaupt "die bestehenden Zustände" ab. So erkannte er letztlich auch in der Ehe - wie er sie 1915 mit Zenzl alias Kreszentia schloss - prinzipiell nichts anderes als "eine gesellschaftlich geschützte [...] Wurzel persönlichkeitsunterbindenden Zwangs".

"Des Lebens höchste Güter" fand er anderswo: in "Kunst und Wissen, Arbeit und Genuss, Liebe und Erkenntnis". Scheinbar verträglich ersehnte er für sich und eine künftige, von Grund auf gebesserte Menschheit "Friede, Freiheit, Freude". Indes galt es, auf dem Weg dorthin alle autoritären, mithin staatlichen Verhältnisse ebenso grundlegend zu verändern: abzuschaffen. Mühsam war Utopist: erfüllt von der "Sehnsucht nach einer idealen Menschheitskultur". Trotz aller Rück- und Nackenschläge hielt seine Zukunftsgläubigkeit unverdrossen fest daran.

Er dekretierte: "Das Mittel zur Abänderung als schlecht erkannter Zustände heißt immer Aktion." Und der Akt, den Mühsam meinte, war der Terrorakt: die "physische Justiz", die ein Einzelner "innerhalb des geregelten Gesellschaftsbetriebs" eigenmächtig beansprucht. Im Terror sah er "ein künstlerisches Lebenswerk" sich vollenden gegen "die Scheußlichkeiten herrschender Mächte".

Den Bürger, der heute auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verfassungstreu den aufrechten Gang vollführt und dabei bestürzt dem Terror in der Welt zusieht, stößt Mühsam damit mächtig vor den Kopf. Ihm galt die Inanspruchnahme des Stimmrechts bei Wahlen nur als wirklichkeitsfremde Betätigung des "Massemenschchens" in seinem Drang, "seine Meinung als maßgeblich für die Mehrheit anzusehen". Und Demokratie definierte er als den "Versuch, aus der Volksseele einen Diagonalwillen zu destillieren". Als Gegensatz dazu postulierte er die Anarchie: die irgendwann erreichte herrschaftslose "Gesellschaft brüderlicher Menschen, deren Wirtschaftsbund Sozialismus heißt".

Noch bevor die Nationalsozialisten die Macht übernahmen - wovor Mühsam früh warnte -, setzte Joseph Goebbels den Unruhestifter als "jüdischen Wühler" auf seine Schwarze Liste. Wirklich verhaftete ihn am Tag nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933, die SA. In verschiedenen Folterkellern erlitt er siebzehn Monate hindurch schwerste Torturen. "Sein linkes Ohr war wie ein Boxerohr ganz dick angeschwollen", zitiert Zenzl, seine Frau, einen Augenzeugen unter den Mitgefangenen, "und aus dem Gehörgang trat eine große Blase heraus. Die Augenlider waren vollkommen blau und blutig. Er sagte: Weißt du, vor dem Sterben habe ich keine Angst, aber dieses langsame Hinmorden, das ist das Grauenhafte."

Am 10. Juli 1934 hängten ihn Unmenschen tot in einem Abort des KZs auf. Nicht ihn selbst: nur das Übriggebliebene, das sie in die Hand bekommen hatten. Michael Thumser

Das seid ihr Hunde wert

... heißt ein "Lesebuch", das Markus Liske und Manja Präkels beim Berliner Verbrecher-Verlag herausgegeben haben (345 Seiten, Paperback, 16 Euro). Weil es "nicht möglich ist, Leben und Werk Erich Mühsams zu trennen", vermischen die beiden darin chronologisch Gedichte, Artikel und Essay-Auszüge mit Lebenszeugnissen des Dichters und über ihn. Die letzten Worte hat seine Frau Zenzl, die erschütternd über den "Leidensweg" ihres Mannes berichtet. Für die Herausgeber bleibt das umfangreiche Schaffen Mühsams seiner "emanzipatorischen Inhalte" wegen dauerhaft aktuell. Neben Fragmenten eines Lebensbild vermitteln sie ein umfassendes Charakterporträt des Autors. Unverkennbar scheint ihre Verehrung für ihn durch ("Auf manche seiner politischen Irrtümer, wie etwa die kurzzeitige ideologische Verwirrung zu Beginn des Ersten Weltkriegs, haben wir aus reinen Platzgründen verzichtet"); dennoch verklärt sich die Darstellung nicht zur Heiligenlegende. Über den "unverwechselbaren Sound und Witz" der Texte, ihre diskussionswürdige Zeitsicht, ihre fragwürdige Gewaltsamkeit kann der Leser ungegängelt seine eigenen Schlüsse ziehen. thu