Um ihre Einheit haben die Deutschen so lange gerungen wie um eine Hauptstadt, die wirklich eine war: schlagendes Herz des gemeinschaftlichen und öffentlichen Lebens an einigermaßen zentralem Ort, zugleich mondäne Metropole mit wirtschaftlicher und kultureller Strahlkraft. Während der gut tausendjährigen Zersplitterung des Reichs reiste ein mobiler Hofstaat von Pfalz zu Pfalz. Das Wien der Habsburger machte sich wichtig und blieb doch vom Großteil der vielen hundert größeren und kleineren Territorien wirkungslos weit entfernt. Mit Bonn, konnte die Bundesrepublik im internationalen Vergleich erst recht nicht protzen. Noch jetzt, mit dem erst königlich-preußischen, dann kaiserlichen, dann nazibraunen, dann geteilten Berlin, der Ostgrenze nah, tut sich das vereinte Land nicht immer leicht.

Das „Reich“ – ein „Konglomerat der Kleinen und Unbedeutenden“. Gleichwohl herrschte an Haupt-Städten nie Mangel: nicht an Orten, an denen sich Beispielhaftes, Einzigartiges, Stil- oder Gesellschaftsbildendes tat. Vielfalt und Vielgestalt des Landes nähren sich bis heute daraus. An solchen Plätzen auf der Landkarte der Nation und in ihrer Geschichte sah sich Herbert Schmidt-Kaspar um; bei „Ausflügen in die deutsche Vergangenheit“ passierte er etliche „Altstadtgassen und Adelshöfe“ (so der Titel seines Buchs) und erfuhr, dass sich dort – etwa im Wolfenbüttel Lessings oder im Wörlitzer Gartenparadies, im flüssefeuchten Regensburg oder im Weimar des „klassischen“ Unternehmers Friedrich Justin Bertuch – über die deutsche Volksseele und ihre mancherlei Wandlungen zum Besseren und Schlimmen treffliche Beobachtungen anstellen lassen. Weniger als Historiker denn als publikumsnaher Publizist geht der Autor vor, in Erzähllaune, spürbar neugierig nicht zuletzt auf Kleinereignisse und Klatsch und das, was als „chaotisch, grotesk oder lächerlich“ oft aus dem Blick gerät. Seine Methode ist die anekdotische und sein Verdienst, dass er seriös bleibt dabei.

Auch in der weiland „verschlafenen und ziemlich vergammelten Residenz einer hohenzollernschen Nebenlinie“ im heutigen Nordbayern macht er Station: im Bayreuth der Markgräfin Wilhelmine. Von ihr, belegt er, lasse sich lernen, das Beste aus einer jämmerlichen Situation zu machen. Unterm Anprall ihrer Inspirationen begann die Stadt, als „Perle des Rokoko“, bald jene „graziöseren Klänge“ anzustimmen, die unüberhörbar immer noch durch die „dröhnende Schicksalsmusik“ von Richard Wagners Festspielhaus dringen.

Wenn der Autor von Wilhelmine spricht, wirft er natürlich auch Seitenblicke auf ihren hochmögenden Bruder, den preußischen „Alten Fritz“ Friedrich II. Und rüttelt dabei – und wiederholt im Buch – ironisch an dem, was gemeinhin als historische Größe gilt. MICHAEL THUMSER

Herbert Schmidt-Kaspar: Altstadtgassen und Adelshöfe. dtv-Premium, 280 Seiten, broschiert, 279 Seiten, 14,50 Euro.