„Die Schriftsteller sind die Lohnbuchhalter ihres Lebens“, wusste Erich Kästner mit 25 Jahren, als er selbst noch gar kein ausgewachsener Schriftsteller war. Doch schon ein Schreiber war er mit Haut und Haaren, als 1924 jener Aphorismus unterm Pseudonym Eo Pejus im Magazin Das Leben erschien. In Dresden hatte er für eine Schüler- und eine Theaterzeitschrift Artikel verfasst, als Leipziger Student epigonale Gedichte in einer Anthologie veröffentlicht. Ein Zeitungswissenschafts-Dozent der Universität rühmte sein außergewöhnliches journalistisches Talent.

Dem kann der moderne Leser nun zustimmen. Ein Band des Lehmstedt-Verlags versammelt Sinnsprüche, Lyrik und Novellen, Rezensionen, Glossen und Kommentare, die Kästner zwischen 1923 und 1927 in zwei Leipziger Tageszeitungen und drei Illustrierten publizierte. Um das Bild jener Jahre zu ergänzen, fügte Herausgeber Klaus Schuhmann Briefe und Postkarten an, worin der Lohnschreiber und Lebensbuchhalter seinem „lieben, guten Muttchen“ zum Beispiel über sexuelle Anziehungen und seelische Verwerfungen zwischen ihm und seiner Freundin Ilse berichtet. Leis tönt ein lässlicher Hang zur Anmaßung, die Verliebtheit in den eigenen „Scharfsinn“ durch die Zeilen.

Mithin nicht nur ein literarisches, ebenso ein biografisches Dokument; und – in der chronologischen Abfolge der Texte, in ihrer Artenvielfalt und wandelbaren Intonation – ein Spiegelbild des jungen Menschen Kästner, wenngleich sich der oft hinter Kürzeln und Kunstnamen verbirgt. Dem Leser begegnet der beobachtende Zeitgenosse zunächst nicht ehrgeizig als Literat, sondern als Flaneur: Die Messen der Handelsstadt durchstreift er, ein randständiger Teilnehmer am „Karneval des Kaufmanns“ (so der Titel des Sammelbandes); die Ungeduld der Ökonomie hält er gegen das allseitige „Hundeleben“ in Armut und Inflation und entlarvt in großmäuliger Reklame „die Käuflichkeit der Welt“. Beides, sein lebenslanges soziales Gewissen und die Gabe zur reflektierenden Satire, bekundet er schon hier.

Kästners rasch ausreifende Rhetorik in ihrer Eleganz, die nichts beschönigt, die „neue Sachlichkeit“ seines blitzenden Esprits lassen sich erspüren. Dabei nimmt seine sarkastische Schärfe in den politischen Artikeln zu, die sich ab 1926, mit seinem Wechsel vom Feuilleton ins Politikressort, häufen: Als pazifistischer Demokrat prangert er Feme-Morde an, mahnt zur Abrüstung, warnt vor Mussolini, benennt den Irrsinn eines internationalen Gleichgewichts des Schreckens.

Jäh endete Kästners Leipziger Presse-Periode. Zu Fasching 1927, unter anderem in der Plauener Volkszeitung, hatten er und sein Freund Erich Ohser alias e. o. plauen sich durch das allzu unverklemmte „Abendlied des Kammervirtuosen“ unerwünscht gemacht – eine lyrisch kunstvolle Frivolität gegen die Klassiker-Schwärmerei des Bildungsbürgers. Die Entlassung war ein schwerer Schlag; und taugte freilich als Entree für die aufregenden Jahre in Berlin, die folgen sollten.

Über Lust und Lustigkeit lässt sich so wenig streiten wie über Geschmack. „Er reißt keine Witze. Er hat Humor; also jene Gemütskrankheit, die eine große Traurigkeit mit Ironie und Güte zu kurieren sucht.“ Was Erich Kästner da über Joachim Ringelnatz, den Freund, in die Zeitung setzte, gilt für ihn selbst erst recht.

Erich Kästner: Der Karneval des Kaufmanns. Lehmstedt-Verlag, 492 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.