Ein Dichter, in Ehren ergraut, macht sich zum Narren. An einen fernen, fremden, schönen Knaben verliert er sein Herz; und er verliert die Kontrolle. Bisher war sein Leben "heilig nüchterner Dienst" an der Arbeit; mit eiserner Disziplin hielt er es auf Kurs. Nun, in der von einer Seuche heimgesuchten Lagunenstadt, erlebt er, wie das Chaos in seine Ordnung einbricht, und fast lustvoll gibt er seine Selbstzucht der Zügellosigkeit preis. Den "Tod in Venedig" lässt Thomas Mann, selber Poet, in einer berühmten Novelle sein Alter Ego Gustav von Aschenbach erleiden, nicht indes ohne dass der noch ein letztes Meisterstück schafft. Solch ein Lebensabschied ist kein Spaß, aber auch kein Unsinn, weniger Not als Erfüllung, Vollendung.

Pas d'art sans desordre: Keine Kunst ohne Unordnung. So steht es auf einer schwarzen Tafel, die Ben Vautier 1991 schuf und mit der er jetzt in einer Ausstellung der Bonner Bundeskunsthalle vertreten ist. "Narren. Künstler. Heilige" in ihrem Wirken, ihren Werken versammelt die Schau, um das "Lob der Torheit" anzustimmen. Zauberischen Exzentrikern, Schamanen, Visionären aus vielen Erdgegenden und 3000 Jahren begegnet der Besucher, Menschen am Rand und jenseits der Außenseite der Gemeinschaft. "Wie es ohne Tod kein Leben gibt, kann es ohne Chaos und Exzess, ohne Unverständliches, Mystisches, Außergewöhnliches weder Ordnung noch Normalität geben", schreibt der Veranstalter. Von altägyptischen Gottheiten der Nacht und des Tumults über Magier Sibiriens und Ozeaniens bis zu Anna Halprin und der legendären Mary Wigman mit ihren Tanzperformances reicht die Liste der Entfesselten. Der Künstler Aschenbach des Künstlers Thomas Mann hätte, auf seine Art, zu ihnen gepasst.

Denn sein Schicksal zwischen Schmerz und Schönheit zeigt: Nicht jeder Narr ist ein Loser; um ein Narr zu werden, muss einer nicht notwendig den Verstand verlieren. In drei Unterarten teilt sich die Klasse des Narren auf. Als Geisteskranker zeigt er sich in höchster Steigerung: als Zeitgenosse, der sich pathologisch der Normalität entzieht, mithin den Normen, wie die Mehrheit sie setzt; ver-rückt ist er - aus dem Gleis des Verstandes und der Gesellschaft geraten. Harmlos neben ihn stellt sich der Narr als Tor und Naivling, als gefährlicher Dumm- und Quatschkopf womöglich - einer, der in seiner Einfalt die verwirrende Vielfalt um sich nicht erkennt. Und schließlich: der Narr als Spaßmacher, Gaukler, gewiefter Artist. Als Hofnarr, den geistreichen Kopf unter der Narrenkappe, sein Leben durch Narrenfreiheit geschützt, war's ihm einst als Einzigem gestattet, seiner erlauchten Herrschaft die unbequeme Wahrheit zu sagen.

In solcher Dreifaltigkeit interessiert der Narr Anthropologen, Menschenkundler, von mancherlei Couleur: Mediziner und Philosophen, Literaturwissenschaftler und Theologen; auch Völkerkundler wie Bertrand Hell und Kunsthistoriker wie Jean de Loisy, die beide die Bonner Schau kuratierten. Neben vielen exotischen Orten und Kulten suchen sie in ihr auch Fastnacht und Fasching in mitteleuropäischen Breiten auf. Nicht als frivole Verkleiderei, als befristeten Ausbruch des Alltags in eine inszenierte Regellosigkeit, zeigen sie das Narrentreiben, sondern als alpenländische Beschwörungstänze grausiger Höllen-, Nacht- und Gegenweltgestalten, von Percht und Tschäggätä, Klaubauf und Krampus.

Da erweist sich, wie leicht einem im Närrischen das Unheimliche begegnet. Das lässt den Menschen unbestimmte Furcht verspüren, indem sich in sein Gefühl ein Grauen schleicht. In einem brillanten Essay über "Das Unheimliche" ging der Psychoanalytiker Siegmund Freud von E.T.A. Hoffmanns "Sandmann" aus: Über einen jungen, durch Kindheitserlebnisse grässlich traumatisierten Mann berichtet die Erzählung, der seinen Augen nicht mehr trauen kann, als er sich bis zur Raserei in ein Mädchen verliebt; nachgerade einen Narren hat er an ihr gefressen - die doch in Wirklichkeit nur eine Puppe ist, ein seelenloser Automat. An dem Beispiel ergründete Freud besagtes Unwohlsein der Seele, indem er es mit dem verglich, was allgemein als heimlich gilt: mit dem Geheimen also - dem bescheiden Unauffälligen ebenso wie mit dem Verheimlichten, dem Unerlaubten gar, das im Verborgenen geschieht. Wenn derart Totgeschwiegenes zutage tritt und mitten im Vertrauten auffällig wird, im Wortsinn merkwürdig und außerordentlich, dann befremdet es, erschreckt und ängstigt, lässt schaudern und erbeben. Da können dann närrischer Albtraum und das Chaos der Wirklichkeit untrennbar und unentrinnbar ineinander übergehen.

Der sprichwörtlich "heiligen Einfalt" des "heiligen Narren" hat sich Gerhart Hauptmann zugewandt. Den "Narren in Christo Emanuel Quint" erhob er 1910 zur Hauptfigur eines Romans: Darin sieht sich ein Handwerkerssohn von Gott persönlich ausersehen, gegen Kirche, Krieg und Kapital zu predigen; Gemeinden sammelt er um sich, erntet für seinen frommen Wahn jedoch auch Spott und stirbt, im Glauben, Christus selbst zu sein, einsam im Schnee - ein komischer Heiliger, ein tragikomischer.

Vollends ins Reich der Satire gehört das "Lob der Torheit", das der Philosoph Erasmus von Rotterdam 300 Jahre früher sang. Unvernunft erscheint bei ihm in zweierlei Gestalt: als Laster, Ausschweifung, Grausamkeit; und als "holde Selbsttäuschung". Frau Torheit persönlich erscheint, um ihre Vorzüge zu preisen: So befreit Vielweiberei den Mann aus lebenslanger Eheknechtschaft; und die Kirche, brutal verstrickt in Streit um Macht und Reichtum, darf fest auf die Gutgläubigkeit ihrer treuherzigen Gemeinde bauen ... Als Hohn ist das gemeint, versteht sich, und wirft Schatten auf den zwielichtigen Glanz der Welt. Sämtliche Sorten von Wahnsinn und Torheit setzte Sebastian Brant 1494 als Passagiere in sein "Narrenschiff" und scherte alle über einen Kamm: Sie sind allzumal Sünde.

Mehr als für Verrücktheit interessieren sich die Kuratoren für Entrücktheit, für Ex-Zentriker, die aus ihrem angestammten Ich als Lebenszentrum heraustreten, sich - mittels Tanz, Droge, Ritus - in Traum und Trance versetzen, visionär mit Jenseitswesen in Beziehung setzen oder sich in sie verwandeln. Den wunderlichen Außenseitern und vergnügten Toren spürt die Bonner Schau sogar in der antiken Götterwelt nach, in der Ekstase der Orgie, im Bacchanal.

Der weggerückte, aus einer Göttergemeinschaft ausgeschlossene Narr stellt sich nicht jetzt in Bonn, doch vom nächsten Sommer an erneut in Bayreuth ein: In Richard Wagners Bühnenfestspiel "Der Ring des Nibelungen" spielt Loge, der Herr des Feuers, diese Rolle. Den ratlosen Himmlischen hilft er, die irdischen Riesen durch eine Narretei, ein unterirdisch fieses Schelmenstück, um das "Rheingold" zu bringen; und dem ersten Teil der Operntetralogie hilft er durch seinen zynischen Witz, zum Lustspiel zu geraten. Wahrlich ein weiser Narr: Durch ihn beginnt die monströse Musiktragödie ausgesprochen komisch.

Im Dichter Gustav von Aschenbach, dem Kopfmenschen aus Thomas Manns Novelle, zeigt sich Geist ausschließlich als Verstand; doch erst im Doppelsinn erschließt das Wort sich ganz - nämlich auch als Spukgestalt, Schreckbild. So, mit zwei Gesichtern, kommt ebenso die Weisheit der Narren vor: Sie "werden nicht alle" - sie sterben nicht aus -, weiß das Sprichwort, und jedem von ihnen "gefällt seine Kappe": Der Dummkopf hält sich selbst für klug.

Zugleich freilich hat der Narr -
und durch nichts lässt sich die Torheit höher loben - die größte Aussicht auf das Glück der Seelenruhe: Das verlorene Paradies des erwachsenen Menschen ist nicht die Kindheit, sondern die Arglosigkeit. Nur der Wissende, Geistreiche, Informierte kann verzweifeln an der Welt. Die Gefahren, die aus ihrem Chaos wachsen, kennt der Hinterwäldler, Ignorant und Einfaltspinsel nicht. Er findet seine kleine Welt in Ordnung. Der große Rest, den er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.

Schamanen-Trommel aus Sibirien vom Anfang des 20. Jahrhunderts (Leigabe des
Russischen Museums

für Ethnografie in

Sankt Peters-

burg).


Wie es ohne Tod kein Leben gibt, kann es ohne Chaos keine Ordnung geben.

Ausstellungsteam

der Bundeskunsthalle in Bonn


Die Narren werden nicht alle, und jedem gefällt seine Kappe.

Deutsches Sprichwort


In Bonn

... ist die Schau "Narren. Künstler. Heilige. Lob der Torheit" noch bis zum 2. Dezember in der Bundeskunsthalle zu sehen (Friedrich-Ebert-Allee 4, montags geschlossen). Durch 250 Ausstellungsstücke aus allen Weltkulturen und Epochen führt sie Schamanen, Propheten, Priester, Heilige vor und vergisst auch die Künstler nicht: Arbeiten etwa von Emil Nolde, Hermann Nitsch, Picasso und Beuys, Paul McCarthy oder Jonathan Meese ergänzen spannungsreich die völkerkundlichen Exponate. Katalog 29 Euro (Nicolai-Verlag, gebunden, 223 Seiten).