Nachdem Mark David Chapman 1980 in New York John Lennon erschossen hatte, fand die Polizei bei ihm ein Buch: "Der Fänger im Roggen". In "Fletchers Visionen", einem Kinothriller um eine Verschwörung, sieht sich ein traumatisierter Taxifahrer dazu getrieben, immer aufs Neue Exemplare des Romans zu kaufen. So allgegenwärtig ist das Buch in den Vereinigten Staaten, und nicht nur dort. Viel mehr veröffentlichte sein Autor, J(erome) D(avid) Salinger, nicht; aber immerhin eines der berühmtesten Bücher der Welt.

Dabei soll er viel geschrieben haben. Doch als Salinger am Mittwoch wenige Wochen nach seinem 91. Geburtstag starb, hatte er mehr als ein Halbjahrhundert lang so gut wie unsichtbar in New Hampshire zugebracht. Der große Unbekannte: Ernest Hemingway lernte ihn während des Weltkriegs in Paris kennen und spürte sein "verteufeltes Talent"; und William Faulkner, der 1950 den Literatur-Nobelpreis entgegennahm, nannte den im Jahr darauf erschienenen "Fänger" - Salingers einziger Roman neben einer Reihe von Erzählungen - "das Beste der jetzigen Generation".

Generationen von Lesern, jungen hauptsächlich, ergriff und beeinflusste das Buch. Eine Pubertätsgeschichte: Holden Caulfield, sechzehn und soeben vom Internat geflogen, durchstreift drei Tage lang das vorweihnachtliche New York; seine Heimatstadt - doch abweisend, unwirtlich verhält sie sich zu ihn. Mit Frauen will Holden sich einlassen. Ein Zuhälter vertrimmt ihn. Mit einer Schulfreundin von einst läuft er Schlittschuh, und ein wenig Wärme und Zutraulichkeit stellt sich ein; aber abhauen mit ihm - das will sie nicht. Daheim, heimlich, trifft er seine kleine Schwester. Ein Lehrer scheint ihn sexuell missbrauchen zu wollen. Nach einer Nacht auf dem Bahnhof entschließt sich Holden endlich, ganz nach Hause zurückzukehren, zu seinen "höllisch empfindlichen" Eltern.

Als Nervenkrankenhaus-Patient schreibt er seine Geschichte nieder, in seiner Sprache: ein wenig verdrossen, aber nicht herzlos, so, wie ihm die Worte in den Mund kommen. Und freilich knüpft und spannt sich darunter ein Netz der Bezüge, ausgetüftelter Leitmotive, magischer Chiffren. Drei Tage lang will Holden die Zeit anhalten: Pause machen auf dem Weg zum unverstandenen, misstrauisch beäugten Erwachsensein. Durch drei Tage lässt er sich treiben, wie durch ein frostiges Fegefeuer bis zur Auferstehung; denn seine Um- und Irrwege durch die Schluchtenlabyrinthe haben mit Freiheit nichts, doch viel mit Verlorensein, Ausweglosig- und Unhaltbarkeit zu tun.

Vom Leser - oder muss es nicht eigentlich Zuhörer heißen? - verlangen Holden und Salinger keine Bildung, keinen literarischen Geschmack, keine Interpretationskunst. Dennoch haben Amerikas Schüler und Studenten an wohl keinem anderen Buch der US-Literatur so viel herumgedeutelt wie an diesem. Ein Kultbuch; vielleicht trieb der unverhoffte Rummel den Verfasser in sein Versteck. Vielleicht hat Salinger dort, schreibend, doch schweigend, das Höchste errungen, was einem lebenden Künstler beschieden sein kann: allgegenwärtig zu sein allein mit seinem Werk.