Er erleidet die Schriftstellerkrankheit. Schaffenskrise. Und das mit knapp 30 Jahren.

Der junge, erfolgverwöhnte Autor sucht bei seinem alten Lehrer und Uni-Professor Rat und Hilfe. Harry, der mehr über Bücher, die Liebe und die Liebe zu Büchern und dem Leben weiß, lebt in Aurora, einer Kleinstadt. Großstädter Marcus verlässt New York, reist in die beschauliche Provinz - und landet nahezu postwendend in einem Mordfall. Sein Leben überschlägt sich.

"Ich werde mich gut um Sie kümmern, mein junger Freund", sagt Harry im Roman zur Begrüßung seines Schülers. "Sie werden sehen. Sie werden hier einen Mordsroman zusammenschreiben. Machen Sie sich keinen Kopf. Alle guten Schriftsteller durchlaufen mal solche schwierigen Phasen."

Die Freunde sind ungleich. Marcus, der jüngere, sucht in der Ruhe des kleinstädtischen Idylls Inspiration, Harry, der ältere, einen Ausweg aus der Leere. Die fesselt ihn seit 1978, seit er sein eigenes Meisterwerk "Der Ursprung allen Übels" geschrieben hat - und ihn die Liebe seines Lebens verlassen hat.

Aurora, das Provinznest, ist stolz auf Quebert, den berühmten Autor. Im Diner ist ihm eine Plakette auf dem Tisch gewidmet. Aurora ist Amerika in Reinform: Eine Hauptstraße, ein paar Läden, Polizeistation, Post, Kneipe. Jeder kennt jeden, jeder ist Spießer durch und durch. Bester Nährboden für gute Literatur, aber auch für Literatursatire und Kritik am Literaturbetrieb.

Marcus, der junge Autor, fährt nach seinem Erholungsaufenthalt zurück nach New York, immer noch ohne Roman-Idee. Und dann taucht Nola Kellergan auf. Nola, die große Liebe von Harry Quebert, der er seit 30 Jahren nachtrauert. Ihre sterblichen Überreste waren all die Jahre im Vorgarten Harry Queberts vergraben. Das Medieninteresse ist groß. Harry landet im Gefängnis. Der junge Autor will seinem Freund helfen, seine Unschuld beweisen. Er wird zum Ermittler, denn Harry wird verdächtigt, vor 30 Jahren die damals 15-Jährige ermordet zu haben.

Die Fäden des Kleinstadtkrimis zwischen gestern und heute sind spannend verwoben. Was ist Wahrheit? Was ist Schein? Der Leser verliert sich im Sog der Seiten. Auch Marcus schreibt sein Buch. Stück für Stück bröselt die Fassade des sauberen Städtchens Aurora, Saubermänner sind plötzlich keine mehr, scheinbar heile Familien verlieren beim näher Hinsehen ihren Glanz.

"Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" ist mehr als nur ein Krimi. Ein Thriller, der eine Liebesgeschichte ist, eine gesellschaftskritische Reportage mit viel Liebe zum Detail. Ein Spiel mit Lolita-Motiv, das Entlarven von Kleinbürgertum und kollektivem Wegschauen. Ein Mordsroman.

736 Seiten, die in keiner Sekunde langweilig sind. Und die Freude machen auf den nächsten "Dicker". Der hoffentlich keine Schreibblockade hat oder, falls ja, sie so unterhaltsam und fesselnd verarbeitet wie in seinem preisgekrönten Roman. Joël Dicker ist eine literarische Entdeckung, sein Roman wird nicht nur in Frankreich als "Sensation" gefeiert.

"Ein gutes Buch, Marcus", lässt Autor Dicker seine Romanfigur Harry Quebert sagen, "ist ein Buch, bei dem man bedauert, es ausgelesen zu haben."

Besser kann man es nicht sagen. Schreiben auch nicht. Kerstin Dolde

-----

Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Piper, gebunden, 736 Seiten, 22,99 Euro.

Lese-Empfehlung