Luther und kein Ende. Dabei hat das Lutherjahr noch nicht mal angefangen. So sucht neuerdings Volker Leppin unterm Buchtitel „Die fremde Reformation“ nach „Luthers mystischen Wurzeln“, während bei Volker Reinhardt – und im selben Verlag C.H. Beck – der Reformator als „Luther, der Ketzer“ Rom aufmischt. Welcher publizistische Tsunami mag die Leser da erst 2017 überfluten?

Aber freilich, ein Thema, das Vorlauf verträgt und viel Papier füllen kann, das sind „500 Jahre Protestantismus“ schon. Unter jene Überschrift stellt Katharina Kunter ihre – als Neuausgabe aktualisierte – „Reise von den Anfängen bis in die Gegenwart“ lutherischen und reformierten Glaubens. Ob Protestant, Katholik oder Atheist – die Texte mit ihren etwa 150 Illustrationen und Karten, dazu der zusammenfassende „Zeitstrahl“ und das knapp kommentierte Literaturverzeichnis im Anhang belegen: Die 1517 ins Licht der Geschichte tretende Konfession hat „unsere Wertvorstellungen, unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen sowie unsere Kultur mitgeprägt“, und das nicht hierzulande allein, ebenso, und mit Macht, in der Schweiz und in Skandinavien, in Nordamerika.

Folgerichtig greift die überschaubare, aber selten oberflächliche Darstellung von der Vorgeschichte auf die Hauptereignisse, von Deutschland nach Europa, von der Alten Welt in die Neue aus. Nur knapp erwähnt werden Luthers obrigkeitshöriger, fürstenfreundlicher Konservatismus, seine blutrünstige Preisgabe der auf ihn bauenden Landbevölkerung während des furchtbaren Bauernkriegs von 1524/25, sein „vor allem in den späteren Jahren zum Ausdruck kommender, tiefer Judenhass“. (Umso intensiver durchleuchtet ihn bis zum 6. November die Ausstellung „Luther, Bach – und die Juden“ im Eisenacher Bachhaus.)

Dafür widmet die Autorin den bedeutenden Frauen der Reformation ein Extrakapitel. Wechselvoll positioniert sie den Protestantismus des 19. Jahrhunderts zwischen seiner fatalen Nähe zu den Mächtigen und seinem Engagement für die „Machtlosen“ und verfolgt beides weiter bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, zum Kampf um Menschenrechte und Völkerfreiheit, auch unterm Zeichen der Ökumene.

Den tiefen Einschnitt durch den Nationalsozialismus überspringt die Autorin natürlich nicht. Dem Hitlergruß des protestantischen Reichsbischofs Ludwig Müller und seiner „Deutschen Christen“, die sich vor allem mit ihrem Antisemitismus auf Luther beriefen, stellt sie die todbereite Aufrichtigkeit Martin Niemöllers, Jochen Kleppers, Dietrich Bonhoeffers gegenüber. Auch die Entschlossenheit der Lehrerin Elisabeth Schmitz: Sie kehrte sich als Verfasserin einer kritischen Denkschrift und als Beschützerin flüchtiger Juden risikobereit gegen das Regime.

Ermutigend der Glaube der Autorin an eine moderne „Welt der Möglichkeiten“. Dass sich der Protestantismus in Zeiten der Bedrohung wie der Befreiung, des Aufbaus wie der Zerstörung bewähren musste und muss, versinnbildlichen die allerersten, seitengroßen Fotos des Bandes: das Dresdner Denkmal mit dem aufrecht-weitblickenden Theologen vor den überwachsenen Ruinen der Dresdner Frauenkirche im Jahr 1992; und dasselbe Monument vierzehn Jahre später: Da steht Luther vor dem hell wiedererrichteten Gotteshaus – und kann nicht anders.
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Katharina Kunter: 500 Jahre Protestantismus. Elsengold-/Palm-Verlag, 240 Seiten, gebunden, Großformat, 19,95 Euro.