Selb - "Über den Tellerrand": Am morgigen Sonntag um 11 Uhr setzt Jaroslav Rudis aus Brno (Brünn) die hochkarätige Vortragsreihe in der Galerie Goller (Ringstraße 52) fort. Der tschechische Autor, der wechselweise in der Tschechischen Republik und in Deutschland lebt und arbeitet, machte unter anderem mit Romanen wie "Vom Ende des Punk in Helsinki" auf sich aufmerksam.

Stellvertretend steht er für eine ganze Richtung neuer Literatur aus Tschechien, über die der 245. Band der Horen berichtet. Herausgegeben und eingeleitet haben den Auswahlband Mirko Kraetsch und Eva Profousová, zwei Kenner des schreibenden Metiers und umtriebige Literaturvermittler. Sie stellen fünfzehn Autoren zumeist mit deutschen Erstübersetzungen vor.

"Geschweige denn Ostrava ..." - der Titel der Anthologie weist insgeheim auf eine existenzielle Frage hin: Habe ich mein Leben wirklich gewählt oder will ich im Grund ganz anders leben? Die Antworten fallen so vielfältig aus wie die in dem Buch versammelten Autoren, die ihre Kindheit und Jugend größtenteils noch unter dem kommunistischen Regime verbrachten.

In Jaroslav Rudis Kurzgeschichte "Silvester in Bílý Potok" beschäftigt die Sinnfrage den Fahrdienstleiter, den Leser schon als Titelhelden der Comic-Trilogie "Alois Nebel" kennen. Nebel legt mit beißender Selbstironie Rechenschaft über sein ebenso verschenktes wie erfülltes Leben in der Kleinstadt Bilý Potok ab, die früher Weißbach hieß und deutsch-tschechisch bevölkert war. Er ist davon überzeugt, dass sich seit seiner Geburt eine "schicksalshafte Schlinge" um seinen Hals windet, denn er hat sich weder das Altvatergebirge als Geburtsort noch die Eisenbahn als Lebensinhalt ausgesucht. Anderen ergeht es auch nicht anders. Der Bahninspektor, so erzählt Nebel im mäandernden Fluss von Assoziationen, habe sich seinen Beruf genauso wenig ausgesucht, auch nicht seine Frau, geschweige denn Ostrava als Arbeitsort, wo ihn die mit Eisenerz und brauner Kohle beladenen Güterzüge nicht schlafen lassen. Detailreich schildert Nebel als Ich-Erzähler nicht nur seinen desolaten Gefühlszustand am Silvesterabend 1988, sondern auch ein Stück tschechischer Geschichte durch das Vergrößerungsglas Eisenbahn.

Die ersten Liebeserfahrungen, die der Ich-Erzähler in Milos Urbans Fragment "Lily" schildert, führen in eine typische böhmisch-österreichische Stadt namens Lieben zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Dort nähert sich ein Fabrikantensohn zärtlich unbeholfen seiner Cousine. Wie im Vorübergehen lernen die beiden, dass die Judenkinder auf der Straße im Vergleich zu ihnen arm sind und dass Anglerglück an fremden Teichen nicht von Dauer sein sein muss ... Dem Autor gelingt mit wenigen Strichen und ein paar Wortwechseln eine lebendige, anrührende Welt.

Die neue tschechische Literatur ist aber nicht nur im riesigen, ergiebigen Steinbruch der Geschichte unterwegs; sie wendet sich natürlich auch aktuellen Themen zu. So kämpft die Heldin in Jiri Hájíceks "Fischblut" verbissen um ihr Dorf, das dem Kohleabbau in Nordböhmen weichen soll. Prägnant spiegelt der Autor aus der Perspektive seiner Protagonistin ihren privaten Zusammenbruch im schrittweisen Abriss ihres Hauses wider - die Geschichte einer der Energieförderung geschuldeten Entrechtung und Enthausung.

Der Auszug "Darda" - aus dem gleichnamigen Roman von Irena Dousková - wiederum handelt von einer schwierigen Selbstfindung. Die Ich-Erzählerin verliert im Streit ihren Mann nach zwanzig Jahren. Eine Krebs-Diagnose kündigt der Vierzigjährigen das Ende ihrer Gesundheit an. Sie kann im Spiegel nichts Liebenswertes mehr an sich entdecken. Aber sie begreift: Leben heißt sterben lernen.

Petra Hulová greift in der Kurzgeschichte "Olga" das lange übersehene Schicksal ausländischer Arbeitskräfte in Prag auf. Wieder eine Ich-Erzählung: Olga weiß als Ausländerin, wie es im Wohnheim, auf Ämtern, bei der Arbeit zugeht. Sie macht sich in ihren endlosen Sätzen nichts vor und gibt erschütternde Einblicke in ihr Leben als Putzfrau am Rand der guten Gesellschaft. Zugleich ist "Olga" einer der wenigen Beiträge, die ihren Schauplatz in Prag haben. Sonst steht - mit wenigen Ausnahmen, die im Ausland spielen - die tschechische Provinz und ihr Charme im Mittelpunkt. Die Dominanz persönlicher Erzählungen aus der Ich-Perspektive ist ebenfalls erstaunlich: Sie signalisiert einen Abschied von traditionellen Erzählweisen, der, wie in Tschechien, auch in Deutschland zu beobachten ist.