Immerhin einen Klassiker hat er geschrieben, einen „polyphonen“ Roman aus aberhundert Stimmen und Geräuschen. Schon auf dem von Georg Salter geschaffenen, bis heute berühmten Originalumschlag der Erstausgabe mit seinen Bildchen und der gedrängten Kurzinhaltsangabe beginnt die atemlose Ungeduld der Erzählung: „Berlin Alexanderplatz“.

Hätte Alfred Döblin nur dieses Buch verfasst, er stünde doch in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte auf herausragendem Platz. Er schrieb aber mehr, viel mehr, und ganz anderes auch. Schon vor dem alles überschattenden Hauptwerk von 1929 hatte er etwa zwanzig Titel veröffentlicht, darunter „Die Ermordung einer Butterblume“ – Erzählungen, die ihm den Durchbruch verschafften – und das erfolgreiche „chinesische“ Romandebüt „Die drei Sprünge des Wang-lun“, oder zwei Bände über „Wallenstein“ und die „Gemeinheit“ des Krieges … Indes erreichte davon nichts, und auch nichts, was noch kam, den Welterfolg des Großstadtromans.

Bertolt Brecht, der sonst gern fähige Kollegen eitel verriss, bezeugte Döblin seine Hochachtung. Seit je tritt Günter Grass als dessen unermüdlicher Apologet auf und leitet das eigene Schaffen von dem seines „Lehrers“ ab. Heuer jährte sich der Todestag Döblins – über den noch kein Germanist eine große Biografie hat schreiben mögen – zum 50. Mal. Gelegenheit böte sich da, ihn neu zu entdecken, zumal Verlage wie Patmos und dtv seine Werke im Angebot halten oder gar neu edierten. Doch blieb das Interesse vieler Medien eigentümlich vereinzelt und zeitweilig – kein Vergleich mit jüngstvergangenen Goethe-, Schiller-, Mann-Jahren. „Der Wert Döblin wurde und wird nicht notiert“: Günter Grass’ Klage von 1968 bestätigt sich im 40. Jahr.

„Ich schreibe bald Rezepte, bald Romankapitel und Essays“: Schriftstellerei war für Döblin vielleicht gar kein Beruf, eher unentrinnbarer Dauerzustand. Von Profession war er Nervenarzt. Seine Patienten, Berliner Arbeiter und kleine Angestellte, brachten nicht ihre Beschwerden allein, sondern ihre Geschichte mit in die Praxis. „Ich sah ihre Verhältnisse, ihr Milieu; es ging alles ins Soziale, Ethische und Politische über.“ Unter die Mittellosen und gesellschaftlich Abgedrängten begab sich der Autor mit „Berlin Alexanderplatz“, der Geschichte des Franz Biberkopf, eines verführbar schwachen, zugleich brutal hartleibigen Kriminellen im Moloch jenes „Milieus“. Den festen Willen zum Guten, doch keine Aussicht auf Ausstieg und Aufstieg hat er: Ins Verbrechen driftet der Antiheld ab, Opfer präpotenten Männlichkeitsgehabes wie einer sanften Sehnsucht nach Liebe.

Beinah eine „wahre Geschichte“, vorgeführt in einem naturalistischen Experiment: Film- und reportageartig entrollt der Roman ein Metropolenpanorama aus Bildsplittern, tumultuarischen Einzelszenen und Bewusstseinsströmen, Reklameslogans, Schlagerversen und Presseschlagzeilen, Parlamentsparolen und sarkastischen Kommentaren. Der literarischen Moderne im Weimarer Deutschland gab das Buch des jüdischen Sozialisten spektakulär ein Beispiel vor. Wenige Jahre später brannte es auf den Scheiterhaufen der Nazis: In deren „neuer Ordnung“ galt das expressionistische Meisterstück einer scheinbar chaotischen, in Wahrheit wundersam auskomponierten Prosa als Kunst-Fehler. Die Wurzeln des Faschismus grub Döblin später, mit der weiterentwickelten „Polyphonie“ seiner Stil- und Formenvielfalt, in der Tetralogie „November 1918“ aus.

„Hitler ist die Rechnung, die uns die Geschichte präsentiert.“ Vor der braunen Tyrannei wich Döblin – der 1878 in Stettin als Schneidersohn zur Welt kam (morgen ist sein Geburtstag) und im „nüchternen, strengen Berlin“ ärmlich heranwuchs – unmittelbar nach dem dortigen Reichstagsbrand aus, bis in die Vereinigten Staaten. Auch zur „Reise zwischen Himmel und Erde“ geriet diese Flucht: Als „peinlichen Vorfall“ vermerkten Autorenkollegen wie Brecht seine Wendung zum Katholizismus.

Schon kurz nach dem Zusammenbruch kehrte Döblin nach Deutschland zurück; im Jahr darauf vollendete er seinen letzten Roman, „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“, der nach den Kriegsgründen in einem jeden fragt. Ehrungen und andere Zeichen der Wertschätzung wurden dem Dichter zuteil. Und doch: „Ich bin in diesem Lande überflüssig“, resümierte er schließlich. Todkrank war der Arzt nun selbst. Reich hatte ihn, obschon er geradezu unüberschaubar viel produzierte, keiner seiner Berufe gemacht.

Als „Berlin Alexanderplatz“ eben herausgekommen war und der Verlag den proletarischen, doch plötzlich interessant gewordenen Autor bei einem Empfang der besseren Gesellschaft bekannt machen wollte, da soll ihn eine Dame gefragt haben, ob er, im aufreibenden Doppeldienst der Dicht- und der Heilkunst, nicht fürchte, sich als Arzt eines „Kunstfehlers“ schuldig zu machen. Dergleichen sei ihm – entgegnete Döblin der Anekdote zufolge – erst unlängst passiert: „Ich kurierte einen Patienten während einer einzigen Ordination und erfuhr wenig später: Der Mann ist Millionär.“

Döblins Bücher erscheinen bei den Verlagen Walter (Werkausgabe), Patmos und dtv. Sein Hörspiel „Biberkopf“ als CD bei Patmos (ISBN 978-3-491-91244-1), 16,95 Euro. Im Internet: instruktives und reich illustriertes „Alfred-Döblin-Magazin“ unter http://195.30.254.108/themenseite/themenseite/link/de/558904#558904/