Bayreuth - Auf der allerletzten Seite des Programmhefts steht ein knappes Bekenntnis: "Langsam beginne ich an der Nichtexistenz Gottes zu zweifeln." Herbert Rosendorfer räumte das ein, 2012, in seinem letzten Lebensjahr. Zugeständnis eines Todkranken, der sich dem Himmel gefällig macht?

An die Existenz "Gottes des Gerechten" können viele Juden im "Vorzeige-KZ" Theresienstadt nicht glauben. Dem Tod blicken sie ins Auge. Als "ganz normale kleine Stadt" soll das drangvoll überfüllte Getto demnächst einer schwedischen Rot-Kreuz-Kommission gleisnerisch präsentiert werden. In Wirklichkeit kann an jedem Tag der nächste Transport abgehen, der Häftlinge in ein Vernichtungslager bringt. Um täglich für ein paar Stunden den Hunger, den Horror zu verdrängen, spielen sie Theater.

Das haben die Gepeinigten dort wirklich getan. In Herbert Rosendorfers "Kaufmann von Theresienstadt", seinem letzten Stück, spielen sie Shakespeare. Ob es "was zum Lachen" sei, will ein SS-Mann knarrend wissen. "Ich glaube nicht", bekommt er zaghaft zur Antwort. Dabei firmiert das Drama, das sie proben, als eine von des Meisters Komödien: "Der Kaufmann von Venedig". Mithin führen Juden im Getto das Schicksal eines Juden - Shylock - vor, der eines geplatzten Kredits wegen von einem christlichen Schuldner als Pfand ein Stück von dessen Fleisch einfordert. "Dieses Jetzt", sagt einer, "ist ein schauerliches solches." Unklar bleibt: Ist die Gegenwart des Gettos gemeint? Oder die Shakespeare-Zeit im Lustspiel, das nicht lustig ist? Die Juden spielen den Klassiker "aus der Erinnerung", improvisierend, manipulierend; sie "legen" ihn sich "zurecht" und "drehen den Shylock um".

Unter Marcus Leclaires Regie gelingt das dem ambitioniert facettenreichen Ensemble der Bayreuther Studiobühne lebensnah und -warm, mehr todesbewusst als todtraurig. Ein Doppel-Spiel: Theater auf dem Theater; Theater in der Häftlingsbaracke. Auch Michael Bövers Szenenbild vermischt Spielorte und -zeiten: Für den Stoff aus dem Jahr 1944 zimmerte er eine rohe Unterkunft, wie sie Ikea für das Flüchtlingshilfswerk UNHCR entwarf. Das ist gut so. Die Bühne - um die "Passivität" der Figuren zu unterstreichen und das Publikum zu gedanklicher Aktivität herauszufordern - richtete Böver dort ein, wo sonst die Zuschauer sitzen, die nun dort sitzen, wo sonst die Bühne aufgeschlagen wird. Das ist überflüssig.

Brisant wird Rosendorfers Stück - kein Meisterwerk - dort, wo es Rosendorfers Stück bleibt. Mit nicht allzu viel Tiefsinn wartet es auf; aber unter die Haut geht es schon. Die Menschen in Theresienstadt, den Tod erwartend, hätten "irgendwie normales Leben gespielt": So wird aus Berichten Überlebender zitiert. Im Stück ist's nicht anders. "Wir spielen uns ein Leben vor, das wir gar nicht mehr haben", durchschaut Johanna Rieß; als Judith - alias Jessica -, müde vor Lebensmüdigkeit, zieht sie den Tod in einem aussichtslosen Aufstand dem Tod im Gas vor.

Kann ein Jude den "Jid" für die Nazis machen - sich selber zur verächtlichen Karikatur entstellen? "Warum ist einer ein Jude", fragt, im Stück, Lehmann, der agnostische Spielleiter: "Weil er das Alte Testament für eine schönere Sage hält als das Nibelungenlied?" In der Rolle des jugendlich unverdrossenen Impulsgebers lässt Michael Pöhlmann spüren, dass sogar er Wirklichkeit und Fiktion kaum noch unterscheiden kann, auch in der Liebe nicht.

Lehmanns Barackentheater ist ein kleines Welttheater. Vollmundige Mimen und einfache Menschen tummeln sich darauf: Hinrich Rehwinkel mit greisenhafter Shylock-Tragik, der souveräne Wolfram Ster als spottsüchtiger Professor, Michaela Schoberth in gutherziger Hoffnungslosigkeit, um nur einige zu nennen.

Ein Stück ohne ausdrücklichen Spannungsanstieg - eines über Stagnation; ein Stück ohne Hauptrolle - eines über das Überleben als Gemeinschaft. Nur "so lange wir spielen, leben wir", weiß die Truppe. "Wir machen morgen weiter", verabschiedet Lehmann sie. "Wenn wir morgen noch alle da sind." Für ein paar Augenblicke, am Schluss, vergessen sie sich in einem Freudentanz, der sich als Totentanz erweist.

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Nächste Aufführungen: morgen, Donnerstag, und Samstag, jeweils 20 Uhr.

Dieses Jetzt ist ein schauerliches solches.

Aus dem Stück


Sie haben irgendwie normales Leben gespielt.

Aus dem Bericht eines Internierten


Herbert Rosendorfer (1934 bis 2012)

Geboren vor achtzig Jahren, am 19. Februar 1934, in Gries bei Bozen. Studierte in München zunächst Bühnenbildnerei, dann Jura. Gerichtsassessor in Bayreuth. 1967 Amtsrichter in München. Von 1993 bis zur Pensionierung 1997 am Oberlandesgericht in Naumburg. Ab 1990 Honorarprofessor für Bayerische Gegenwartsliteratur in München. Seit 1997 mit seiner dritten Ehefrau in Eppan/Südtirol. Von 1969 an Gedichte, Romane ("Deutsche Suite") und Erzählungen, Stücke für Bühne und Bildschirm, Libretti, Monografien über Musik, Biografien, Reiseführer. Auch als Zeichner und Komponist tätig. Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Zahlreiche Auszeichnungen (darunter der Jean-Paul-Preis 1999). Gestorben am 20. September 2012 in Bozen. Der Verlag Langen Müller bringt jetzt aus dem Nachlass seinen letzten Roman "Martha" heraus.