1957: Harold Rubin besitzt eine umfangreiche Sammlung von Magazinen mit Fotos nackter Frauen – zum Zwecke sexueller Befriedigung durch „Selbstmassage“. Dem 17-Jährigen ist das erste Kapitel eines Buches gewidmet, das sich mit der amerikanischen Sexualmoral und der sogenannten sexuellen Revolution in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Diane Webber, Harolds Lieblings-Nackte, ist die Protagonistin im zweiten Kapitel, im dritten wird von Playboy-Gründer Hugh Hefner erzählt – „der es als erster Mann in der Geschichte zu Reichtum brachte, indem er offen die onanistische Liebe durch die Illusion einer ebenso verführerischen wie verfügbaren Frau vermarktete“ -, im vierten dann von Anthony Comstock, einem rachedurstigen Protestanten, der als gefürchtetster Zensor in der Geschichte der Vereinigten Staaten gilt.

Und so geht es fort, in einem Buch, für das sein Autor Gay Talese neun Jahre lang, von 1971 bis 1980, recherchiert hat. Er sprach mit Hunderten von Menschen, mit Prominenten ebenso wie ganz „normalen Leuten“ – mehrere Paare gewährten ihm Einblick in den Zustand ihres Ehelebens, ihre Haltung zur Treue, ihre Affären. Harold Rubin taucht im letzten Kapitel als Erwachsener wieder auf: Da leitet er einen Massagesalon in Chicago.

In den USA kam Taleses Buch 1980 unter dem Titel „Thy Neighbor's Wife“ (Deines Nächsten Weib) auf den Markt. Jetzt liegt es erstmals in deutscher Sprache vor, heißt „Du sollst begehren“ und ist nicht mehr ganz so spannend, wie es mal war. Der 1932 geborene Autor gilt als einer der besten Reporter Amerikas; sein von der Vogue als „zeitlos brillant“ gerühmter Stil hat in Gustav Stirners Übersetzung allerdings Einbußen erlitten.

Ralf Sziegoleit

Gay Talese: Du sollst begehren. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 672 Seiten, 29,90 Euro.