So!: Herr Schätzing, 976 Seiten "Breaking News". Wollten Sie nicht - nach dem "Schwarm" und nach "Limit" - mal "was Einfacheres" schreiben? Was ist denn da schiefgegangen?

Frank Schätzing: Das weiß ich auch nicht (lacht). Ich hatte tatsächlich den festen Vorsatz, über zwei Leute in einem Raum zu schreiben. Oder nur den Raum. Aber dann kam mir diese Idee, Ariel Sharon sei nicht einfach Opfer eines Schlaganfalls, sondern eines Attentats geworden - und zack, war ich wieder in der Falle.

So!: Dagegen kann man dann nichts mehr machen?

Schätzing: Doch, man könnte sagen: Schreib ich jetzt nicht. Aber es war eben sehr reizvoll. Als Thriller-Autor sucht man unentwegt nach solchen Ideen, nach einer fesselnden Hook-Line. Und so viele plausible Verschwörungsszenarien gibt die Weltpolitik ja nicht her. Als mir die Idee kam, wusste ich sofort: Das gibt den idealen Polit-Thriller. Die Versuchung war einfach zu groß. Außerdem hatte ich schon lange das dringende Bedürfnis, mir die Sachlage im Nahen Osten zu erklären. Die Sharon-Idee eröffnete mir dazu die große Chance. Also habe ich mich in die Geschichte der Region vertieft. Und wenn Sie einmal in den Sog dieser Geschichte geraten, kommen Sie nicht mehr raus. Von da an hat es immens viel Spaß gemacht.

So!: Was ist "Breaking News"? Spannungsliteratur? Familiensaga? Historischer Roman? Oder Geschichtsbuch?

Schätzing: Genau. Von allem etwas.

So!: Haben Sie denn eine besondere Beziehung zu Israel?

Schätzing: Hatte ich bis zu dem Zeitpunkt nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass die Region ohnehin den Blick auf sich lenkt. Und sich jeder fragt: Warum kommen die da nicht endlich zur Ruhe? Das Problem ist, trotz intensiver Medienberichterstattung verstehen wir nicht, woraus die Gewalt, dieser ganze Hass ursächlich resultiert. Das wollte ich rausfinden, aber zurück zu Ihrer Frage: Nein, ich hatte keine Kontakte nach Israel, ich kannte auch niemanden von dort. Das änderte sich grundlegend, als ich mit der Recherche begann und mein Freund und Verleger Helge Malchow seine persönlichen Kontakte nach Israel aktivierte. Wir flogen hin, und während der Wochen, die ich dort unten zubrachte, öffnete sich mir eine Tür nach der anderen. Dabei habe ich viele neue Freunde gewonnen, auch Palästinenser. Seitdem begleitet mich das Thema auf andere Weise als zuvor.

So!: Wie lange haben Sie recherchiert?

Schätzing: Ich recherchiere immer ein knappes Jahr, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Während des Schreibens geht die Recherche weiter. Bis zur letzten Seite.

So!: Was hat Sie bei Ihren Recherchen in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen am meisten überrascht?

Schätzing: Zunächst nimmt man die komplette Region hier ausschließlich als Kriegs- und Krisengebiet wahr, in dem man nicht gefahrlos aus dem Haus gehen kann. Somit ist das erste, was einen in Israel und auch in der West-Bank überrascht, das Empfinden von Alltäglichkeit. Dieser Alltag unterscheidet sich nicht mal sonderlich von unserem. Man sitzt im Café, lacht, teilt Sorgen, die nicht notwendigerweise was mit der Krise zu tun haben müssen. Da geht's um Schulnoten, Freunde sind krank, man würde gern umziehen und findet nicht die passende Wohnung, berufliche Pläne, das Übliche halt. Während meiner Zeit wurde erstaunlich wenig über den Konflikt geredet. Meist ging es um ganz normale Dinge: Wohin fährt man als nächstes in Urlaub? Was kochen wir heute Abend? Was gucken wir uns im Kino an? Dann fällt auf, es sind beides sehr schöne Länder, Israel und das Westjordanland. Tel Aviv ist klasse, eine Art Miami des Nahen Ostens, gesegnet mit einem nicht enden wollenden Strand. Eine szenige, trendige Stadt, in der es Spaß machen könnte zu leben. Jerusalem erscheint dagegen wie ein anderer Planet. Alle großen Religionen werden dort wie unter dem Brennglas auf den Punkt gebündelt, eine Atmosphäre zwischen Erhabenheit und Absurdität. Ramallah und Nablus, die palästinensischen Zentren im Westjordanland, sind pittoreske arabische Marktstädte, quirlig, lebhaft, kunterbunt. Von Anfang an waren die Eindrücke eher positiv. Als nächstes wird dir klar, wie anders du den Konflikt vor Ort wahrnimmst als in Deutschland vor dem Fernseher. In Deutschland erleben wir einen Konflikt der Systeme und der Ideologien, der die Menschen gleichgeschaltet erscheinen lässt - tatsächlich aber tickt jeder anders. Im Grunde geht es immer nur um den Einzelnen, um das einzelne Schicksal, und jeder erzählt dir eine andere, mehr oder weniger berührende Geschichte. Auf beiden Seiten habe ich freundliche Menschen kennengelernt. Typen wie du und ich. Das Erstaunlichste war vielleicht, wie viele private Freundschaften es zwischen Israelis und Palästinenser gibt. Ich bin bei der Recherche von den einen zu den anderen weitergereicht worden.

So!: Wie schwierig ist es, gerade als Deutscher einen Roman über Israel zu schreiben?

Schätzing: Das ist ab dem Moment kein Problem mehr, in dem man sich seines Deutschseins entledigt und sich als Weltbürger begreift, der einfach nur wissen möchte, warum es auf der anderen Seite des Planeten unentwegt kracht und knallt. Beziehungsweise, ich musste mich des Deutschseins nicht mal entledigen. Da war nichts. Ich hab mich nie explizit deutsch gefühlt. Sechs Milliarden Menschen teilen sich diese Kugel, es werden täglich mehr, alle sind irgendwie miteinander verbunden. Ich bin einer davon und notorisch neugierig. Außerdem sind wir heute ein anderes Deutschland als 1945, bevölkert von anderen Generationen. Wir leben - wer hätte das noch vor 100 Jahren für möglich gehalten? - mit unseren europäischen Nachbarn in Frieden und Freundschaft zusammen. Wir sind Teil der Weltgemeinschaft, und da ist es wichtig, sich einzubringen, statt sich mit Verweisen auf die deutsche "Erbschuld" bequem aus allem rauszuhalten. Wir müssen global Verantwortung übernehmen. Dazu gehört auch, sich zu äußern.

So!: Wird "Breaking News" auch in Israel erscheinen?

Schätzing: Das weiß ich noch nicht. Alle relevanten Verlage haben das Manuskript vorliegen. Meine israelischen Freunde sind sehr für eine Veröffentlichung, sie verstehen nicht, dass da bisher noch kein Deal zustande gekommen ist. Nicht dass ich im Privaten Verschwörungstheorien hege, das tue ich ausschließlich literarisch, aber hier scheint es doch so zu sein, dass Israels Verlage zurzeit an ein solches Manuskript nicht ran wollen. "Breaking News" ist einerseits eine Liebeserklärung an Israel, auf der anderen Seite aber auch ein sehr kritischer Blick auf Netanjahu, vor allem auf die radikalen nationalreligiösen Siedler. Möglicherweise will sich das im derzeitigen Klima kein Verlag ans Bein hängen.

So!: Etliche Leser empfinden den historischen Teil als erdrückend und kritisieren, dass zu wenig Platz für den spannenden Thriller-Teil bleibt. Wie sehen Sie das?

Schätzing: Entspannt. Etliche andere Leser empfinden genau diese Mischung als gelungen. Ich trete nicht an, um es jedem recht zu machen. Funktioniert nicht. Schon gar nicht, wenn man mit so einem gewagten Konstrukt kommt und Thriller, Familien-Epos und historisches Drama in einem Buch zusammenschweißt. Dem einen gefällt's, die anderen wollen keinen Genre-Mix. Beides okay. Wichtig ist für einen Autor eigentlich nur, nicht in Bausch und Bogen verrissen zu werden. Wenn alle dein Buch als misslungen empfinden, hast du ein Problem. Aber wenn etwas so Komplexes kontrovers diskutiert wird - und im Feuilleton reichen die Reaktionen ja von begeistert bis ablehnend -, finde ich das klasse. So muss das sein. Wer nicht polarisiert, der ist auch nicht relevant.

So!: Warum hält gerade diese doch recht kleine Region auf dem Globus seit Jahrzehnten die ganze Welt in Atem?

Schätzing: Dass sie geografisch klein ist, spielt dabei keine Rolle. Sie ist der Nukleus unserer Glaubensgeschichte. In diesem winzigen, mythendurchtränkten Landstrich haben Abermillionen Menschen ihre ethnischen und religiösen Wurzeln. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs suchten Hunderttausende hier ihre Heimat und gerieten aneinander, angelockt von Versprechungen der britischen Mandatsmacht, die keine ihrer Zusagen einhalten konnte. Die hatten Arabern wie Juden ihr eigenes Königreich beziehungsweise ihre nationale Heimstätte versprochen, alles auf demselben winzigen Stück Land. Schon da sind gravierende Fehler gemacht worden. Heute steht die Region stellvertretend für einen globalen Konflikt der Kulturen und Religionen. Um alles geht es. Nur um den Einzelnen geht es schon lange nicht mehr.

So!: Wie halten Sie selbst es mit der Religion, die ja im Nahen Osten so ein bedeutendes Thema ist?

Schätzing: Ich glaube an keinen Gott. Jedenfalls an keinen von denen, die im Angebot sind.

So!: Ist diese Haltung noch bestärkt worden, jetzt, da Sie die religiösen Konflikte hautnah miterlebt haben?

Schätzing: Nein. Ich habe auch nichts gegen Leute, die an Gott glauben. Ebenso wenig, wie ich für mich beanspruche, recht zu haben. Das entscheidende Wort ist Glauben. Wir wissen es halt nicht. Niemand weiß es. Ich meine, jeder, der friedlich und respektvoll gegenüber anderen Menschen seiner Religion nachgeht, soll das nach Herzenslust tun. Nur ist Religion ihrer Natur nach etwas, das Menschen schnell radikalisiert, beziehungsweise schnell zur Radikalisierung missbraucht wird. Damit habe ich schon ein gewaltiges Problem.

So!: Kann es noch Frieden im Nahen Osten geben? Wie kann der aussehen?

Schätzing: Es kann Frieden im Nahen Osten geben, dessen bin ich sicher. Ob es in den nächsten Jahren dazu kommt, wage ich allerdings zu bezweifeln. Erst einmal müssen die in sich zerrissenen, teils tief gespaltenen Gesellschaften dort unten - die israelische wie die palästinensische - in ihrem Innersten heilen. Auf beiden Seiten muss das über Jahrzehnte gewachsene Misstrauen sukzessive überwunden werden. Es ist ja gar nicht so sehr Hass, der eine Lösung unmöglich macht. Hass ist Sache der Hardliner. Viele Menschen dort hassen einander nicht, aber sie misstrauen einander. Sie können nach so vielen Rückschlägen nicht mehr glauben, dass der andere es ehrlich meint. Man muss neu lernen, mit dem anderen zu reden. Vertrauen vorzuschießen, so schwer es fallen mag. Gott als Argument muss sich erübrigen, darf keine Rolle mehr spielen. All das muss einhergehen mit dem Eingeständnis historischer Fehler, die beide gemacht haben. Und das will momentan niemand. Als Folge ist der Nahe Osten ein kranker Mann. Seit Jahrzehnten laboriert man an den Symptomen dieser Krankheit herum, ohne die Ursache zu therapieren.

So!: Wo liegt die Ihrer Ansicht nach?

Schätzing: Einerseits im Versagen der Kolonialmächte, wie schon erwähnt. Sodann in den Kardinalfehlern, die beide Seiten begangen haben: Der Hauptfehler der Araber war, dass sie 1947 den UN-Teilungsplan ablehnten. Die Menschen, die wir heute als Palästinenser kennen, könnten längst ihren eigenen Staat haben. Es war eine Rieseneselei, auf Konfrontationskurs zu Israel zu gehen. Israels Fehler war, dass man nach 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, die eroberten Gebiete nicht ernsthaft als Faustpfand für Friedensverträge genutzt hat, sondern begann, sie zivil zu besiedeln, was die Vorstellung barg, sie für alle Zeiten zu behalten. Man gab sich der Illusion hin, auf ewig über ein anderes Volk herrschen zu können. Würden beide Seiten ihre Fehler eingestehen, müssten sie konsequenterweise hingehen und die Geschichte korrigieren. Dazu ist niemand bereit. So lange also nicht israelische und palästinensische Verantwortliche Bereitschaft erkennen lassen, das eigene historische Versagen zur Basis von Verhandlungen zu machen, schmerzhafte Kompromisse einzugehen, vor allem sich mit den eigenen, sehr gefährlichen radikalen Lagern anzulegen, so lange wird sich da nichts tun. Von Netanjahu und seinem Stab, denke ich, ist da nichts zu erwarten. Von der Hamas schon gar nicht. Und Abbas ist leider zu schwach.

So!: Haben Sie hellseherische Fähigkeiten? "Der Schwarm" kam kurz vor der Tsunami-Katastrophe. Ariel Scharon ist wenige Wochen nach seinem Tod einer ihrer Romanfiguren. Und auch die aktuelle Entwicklung in Israel und Palästina haben Sie vorausgeahnt.

Schätzing: Auf mein Gesamtwerk bezogen relativiert sich das. Wir waren immer noch nicht mit dem Aufzug auf dem Mond (lacht). Also: Natürlich habe ich nicht im Mindesten solche Fähigkeiten. Es ist nur so, dass mich Themen reizen, die noch nicht in den Mainstream vorgedrungen sind oder an denen gerade das Interesse abgeflaut ist, die aber weiter köcheln. Themen, mit denen sich die Öffentlichkeit nicht hinreichend beschäftigt hat, aber wer genau hinschaut, sieht: Da ist was im Gange. So etwas reizt mich. Wenn ich dann darüber schreibe, ist es fast zwingend, dass früher oder später etwas passiert. Tsunamis beispielsweise gibt es allenthalben, gab es immer schon. Im Pazifik alle paar Tage. Meist so klein, dass sie gar nicht auffallen. Nun hatte man das Phänomen im Rheinland oder in Franken nicht auf dem Schirm. Über so was denkst du dann nicht nach, die Nordsee hat auch schon lange nichts Derartiges mehr produziert, und dann geschieht es - und Deutschland reibt sich verwundert die Augen und denkt, ich hätte das Unvorstellbare vorhergesagt.

So!: Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist auf andere Art so etwas unentwegt Vorhandenes?

Schätzing: Absolut. Mal offen, mal unterschwellig. Während des Schreibens war ich eher verwundert, dass es da nicht längst wieder geknallt hatte. 2008 hatten wir schon mal einen Gaza-Krieg, wenige Jahre davor die zweite Intifada. Keines der Probleme, die dieser immer wieder ausbrechenden Gewalt zugrunde liegen, ist je gelöst worden. Es war insofern zu erwarten, dass über kurz oder lang nach Erscheinen des Buches wieder eine dramatische Eskalation einsetzen würde. Wie gesagt, ich kann nicht hellsehen, aber Sie sind nicht die Einzige, die mich dessen bezichtigt. Ich habe Freunden versprechen müssen, nicht über Meteoriten-Einschläge zu schreiben (lacht).

So!: Das beruhigt.

Schätzing: Sagen die auch (lacht).

So!: Nach Ihren vielen Recherchen ist für Sie Ariel Scharon fast zum Freund geworden, haben sie mal gesagt.

Schätzing: Freund ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber er wurde mir familiär. Schauen Sie, ich habe mich über zwei Jahre lang intensiv mit Scharon beschäftigt, Filme über ihn gesehen, Bücher über ihn gelesen, seiner Stimme gelauscht, mit alten Weggefährten geredet, ihn in jeder Facette erlebt. Ich hatte engen Kontakt zu einem Regisseur, der ihn jahrelang begleitet hat, konnte fast dessen gesamtes Material einsehen. Darüber lernt man einen Menschen kennen. Es ist nur natürlich, dass dieser Mensch dann - jenseits aller Schablonen, die man sich von ihm gemacht hat - als enorm vielschichtige Person erscheint. Nicht dass er einem direkt ans Herz wächst. Ariel Scharon war ja ein sehr ambivalenter Charakter. Er hatte sehr, sehr dunkle, aber eben auch lichte Seiten. Als ich dann hörte, er liege im Sterben, hat mich das persönlich schon berührt.

So!: Glauben Sie, dass Sie über die Schiene Unterhaltungsliteratur politisches Interesse wecken können? Beim "Schwarm" haben Sie ja auch Interesse für die Lebewesen der Tiefsee geweckt.

Schätzing: Wäre schön. Unterhaltung muss ja nicht zwangsläufig flach sein, kein Gute-Laune-Programm. Unterhaltung heißt, Leute zu packen, sie mit einer Geschichte zu fesseln. Die Einbringung fiktiver Elemente kann dabei womöglich mehr Empathie für etwas oder jemanden erzeugen, als die bloße Berichterstattung, die kalten Fakten. Nehmen Sie den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust: Fast alle Zeitzeugen sind tot. Was bleibt? Alte Filme und alte Bilder. Damit kann man junge Leute nur sehr bedingt berühren - und seien diese Bilder noch so entsetzlich, aber das sind die Simulationen in Videospielen auch. Es fehlt die Nabelschnur, die das Damals mit dem Heute verbindet. Ich glaube, die Emotionalisierung solcher Themen - und genau das kann Unterhaltung leisten - ist von großer Bedeutung für ein tiefer gehendes Verständnis, für die Erzeugung von Empathie. Unterhaltung kann auf berührende Weise Hintergründe vermitteln, Fragen beantworten, sie erreicht ein großes, vor allem ein junges Publikum. Schafft sie es, dessen Interesse zu wecken, etwa an den Vorgängen im Nahen Osten, ist schon viel gewonnen. Denn wenn Sie unentwegt, über Jahre hinweg, immer nur hören, dass sich da zwei an die Gurgel gehen, ohne zu kapieren, warum, schalten Sie irgendwann ab. Und nichts ist fataler für die Menschen in Krisengebieten, als dass sich die Welt kopfschüttelnd abwendet.

So!: Kennen Sie persönlich einen solch wagemutigen Enthüllungsjournalisten wie Ihren Tom Hagen?

Schätzing: Ich kenne solche Typen. Nicht durchweg Journalisten. Aber auch. Speziell ein deutscher Krisenreporter hat mir tiefe Einblicke in seinen Job gewährt. De facto findet man den Typus Tom Hagen wohl eher in den USA. Deutsche Kriegsreporter sind im Allgemeinen nüchterner, besonnener. Andererseits ist Tom Hagen eine Kunstfigur und nicht wirklich repräsentativ für den Beruf des Kriegsreporters. Eine Romanfigur halt, die in Ausübung ihres Jobs eine fatale Hybris entwickelt und dann sehr tief stürzt, sich praktisch neu erfinden muss, gezwungen ist, in den eigenen Abgrund zu schauen. Zeitweise kennt dieser Hagen keine Grenzen mehr und geht ein Wagnis ein, dessen Auswirkungen er dramatisch unterschätzt. Und während er nun von den Geistern, die er selbst gerufen hat, durch dieses Drama getrieben wird, eröffnen sich ihm nach und nach die Hintergründe des Nahost-Konflikts. Deswegen hat es mich gereizt, die Figur zu erfinden.

So!: Sie sind bekannt für Ihre vielschichtigen Handlungsstränge. Wie behalten Sie beim Schreiben den Überblick, damit Sie sich nicht auf den verschiedenen Ebenen und mit den zahlreichen Charakteren verzetteln?

Schätzing: Indem ich das vorher konstruiere. Wie ein Architekt. Ich baue die Story, verzahne sie auf dem Reißbrett. Vielleicht nicht in allen Details, aber die Haupthandlungsstränge greifen schon ineinander. So weiß ich immer genau, wo ich mich gerade befinde. Andernfalls verlierst du bei so einem Opus den Überblick. Bei "Limit" war das ganz tückisch, weil das Buch ja zugleich auf dem Mond, in China und in Europa spielt, also in mehreren Zeitzonen. Alleine zu berücksichtigen, wie spät es dort jeweils ist, wenn anderswo etwas passiert, erfordert Aufmerksamkeit, und wenn dann noch der Weltraum dazukommt - für "Limit" hatte ich im Vorfeld ein Treatment geschrieben, einem Story-Fahrplan, und farbig immer die jeweilige Uhrzeit neben den Szenen notiert: Blau für Mond, Rot für Europa, Grün für China.

So!: In so einem strengen Korsett können Ihre Figuren dann aber kein Eigenleben entwickeln.

Schätzing: Doch! Das können sie großartig! Es geht ja nur darum, mich in meiner Geschichte nicht zu verzetteln. Die Figuren entwickeln im selben Moment ein Eigenleben, in dem ich sie erfinde. Der Tatbestand ihrer Erfindung erweckt sie zum Leben. Ich entlasse sie in einen vorgefertigten Kosmos, aber was sie dort treiben, entsteht oft spontan. Mitunter entwickeln sich während des Schreibens auch ganz neue Handlungsstränge. Dann schreibe ich das Treatment eben um. Manchmal braucht man einen Stichwortgeber, der einfach nur durchs Bild laufen soll. Das macht der dann so schön, dass ich ihn ein zweites Mal einsetze. Und nochmal. Bis er plötzlich zur tragenden Nebenfigur wird. Auch solche Dinge passieren. Während des Schreibens ist das Buch im ständigen Umbau begriffen. Umso wichtiger, die Handlungsstränge logisch entwickelt zu haben. Sonst bricht einem das ganze Ding auseinander.

So!: Haben Sie beim Schreiben einen Actionfilm im Kopf? Das Buch liest sich durchaus so.

Schätzing: Immer. Ich habe ein Kino im Kopf. Alles, was ich mir ausdenke, sehe ich als Film. Und dann schreibe ich diesen Film ab.

So!: Kann ja gut sein, dass "Breaking News" verfilmt wird?

Schätzing: Ich könnte mir das schön als Mini-Serie vorstellen. Fünf bis zehn Folgen. Aber so weit ist es noch nicht. Schaunmermal.

So!: Was erwartet die Besucher bei Ihrer Show? Von einer Lesung kann man ja nicht sprechen.

Schätzing: Nein, eine Lesung wird es sicher nicht. Ich trete auch nicht in Konkurrenz zur klassischen Literaturlesung, sondern versuche, etwas völlig Anderes, Eigenständiges zu machen. Ich habe Spaß daran, Geschichten in einem erzählerischen Kosmos stattfinden zu lassen, der sich mit unterschiedlichsten dramaturgischen Möglichkeiten weiter und weiter ausloten lässt. Buch, Film, Musik, Performance, alles lässt sich da nutzen. Deswegen finde ich es widersinnig, sich auf der Bühne an ein Tischlein zu setzen und einfach aus seinem Buch vorzulesen. Selbst der beste Vorleser klingt nicht so gut wie die Stimme im Kopf, wenn man selber liest.

So!: Was machen Sie also stattdessen?

Schätzing: Ohrenkino. Ich habe in Israel und der West-Bank etliche Original-Atmosphären aufgenommen, Musik geschrieben und aus alldem mit Freunden eine Klang-Collage gebaut, die wir mittels eines Surround-Systems abspielen. Ein kinoreifer Soundtrack, zu dem ich live lese. Wir löschen das Licht. Sie sitzen praktisch in einem Live-Hörspiel. Empfinden sich als Teil der Szenerie.

So!: Wird auch der passende Duft eingesprüht?

Schätzing: Das nun nicht, und das ist vielleicht ein Segen. Ansonsten ist die Illusion, am Schauplatz des Geschehens zu sein, ziemlich gelungen. Zwischendurch erzähle ich über die Hintergründe der Buch-Entstehung, die Recherche, meine Reisen nach Israel, über all die wissenswerten Dinge, die sich mit "Breaking News" verbinden. Ohne Zeigefinger, ganz locker. Mitunter verzichten wir auch völlig auf das gesprochene Wort und überlassen es ganz der Musik, die Stimmung des Buchs auszudrücken. Ofrin wird auftreten, eine junge israelische Sängerin, die in Berlin lebt. Sie hat eine hypnotische Stimme, das Ganze ist sehr suggestiv. Wir haben die Show bei der "LitCologne" im März sechs Mal über die Bühne gebracht - und alle saßen wie gebannt da.

So!: Sie sind einer der wenigen Literatur-Stars in Deutschland. Wie haben Sie das geschafft? Haben Sie, wie ein Kritiker meinte, "das Schreiben im verstaubten Literatur-Universum Deutschland neu erfunden"?

Schätzing: Wie schmeichelhaft. Und freundlich überzogen, es gibt auch andere hierzulande, die in den letzten Jahren großartig und innovativ geschrieben haben. Und zudem eine tolle Bühnenpräsenz mitbringen. Haben Sie mal Daniel Kehlmann live gesehen, der ja wesentlich stärker als ich die klassische Literaturlesung bietet? Er macht das ganz großartig. Also, da würde ich meine Bedeutung schon ein bisschen schmälern wollen, aber sicherlich bin ich mit einer gewissen Unbekümmertheit daran gegangen, Grenzen zu überschreiten, wie es in der Vergangenheit eher wenige getan haben. Schlicht, weil ich mir nie Gedanken gemacht habe, wo diese Grenzen verlaufen sollten. Die berühmte Grenze zwischen E und U? Gibt's für mich nicht. Die Unantastbarkeit der hehren Literaturlesung? Nichts ist unantastbar. Ich gehe nicht analytisch an die Dinge heran, sondern folge einfach dem Lustprinzip.

So!: Wollten Sie nicht mal eine Auszeit nehmen und ein Jahr lang nur Musik machen?

Schätzing: Mache ich ja gerade. Naja, Lese-Tour und Promotionarbeit kommen schon dazwischen, aber seit Mitte des Jahres habe ich es immerhin einige Male ins Tonstudio geschafft und erste Songs aufgenommen. Das wird sich die nächsten Monate, nächstes Jahr, fortsetzen. Bis mich Bücher wieder mehr interessieren.

So!: Oder Sie gehen auf Musik-Tournee?

Schätzing: Warum nicht? Erst mal ein Album machen oder eine EP mit fünf, sechs Songs, dann eine Band zusammenzutrommeln, ein paar Club-Gigs - ganz, ganz kleine Locations.

So!: Die dann hoffnungslos überfüllt sind, wenn sich herumspricht, dass Frank Schätzing dort auftritt.

Schätzing: Das muss nicht zwangsläufig so sein. Es heißt ja nicht, dass, wenn man als Schriftsteller 2000 Leute in eine Halle lockt, einem das als Musiker auch gelingt. Im Gegenteil, hierzulande hast du es eher schwer, wenn du die Pferde wechselst. Außerdem sollte mein Name als Schriftstellers nun wirklich das letzte Argument sein, sich meine Musik anzuhören.

So!: Gibt es schon Pläne für ein neues Buch?

Schätzing: Ich habe so drei, vier Ideen, von denen ich mir jeweils vorstellen könnte, dass sie ein Buch ergeben. Irgendwann fahre ich mal nach England, mache lange Küstenspaziergänge, vergrabe mich in schummrige Pubs und denke darüber nach, wie sich die Ideen entwickeln. Danach weiß ich, was ich als nächstes schreibe.

So!: Und? Ist diesmal etwas Einfaches dabei?

Schätzing: Etwas vergleichsweise Einfaches (lacht). Aber die "Zwei Leute im Raum"-Geschichte, die hat's noch nicht in meinen Kopf geschafft.

Interview: Andrea Herdegen

-----

Frank Schätzing - "Breaking News" live

12. Oktober Nürnberg Meistersingerhalle,

1. November Leipzig, Gewandhaus,

2. November München, Circus Krone,

25. November Erfurt, Messe.

Kurz & knapp

Frank Schätzing, geboren 1957 in Köln, studierte Kommunikation, war Texter in internationalen Agenturen und ist Mitbegründer der Kölner Werbeagentur Intevi. Anfang der 1990er-Jahre begann er, Novellen und Satiren zu schreiben, und veröffentlichte 1995 den historischen Roman "Tod und Teufel", der bundesweit zum Bestseller avancierte. Nach weiteren Romanen und einem Band mit Erzählungen gelang Schätzing im Frühjahr 2004 mit dem Thriller "Der Schwarm" der endgültige Durchbruch, auch international. Das Buch hat eine Gesamtauflage von 4,5 Millionen Exemplaren erreicht und wurde in 27 Sprachen übersetzt. Im März erschien Schätzings neuer Thriller "Breaking News", den er jetzt in einer Multimedia-Show bundesweit vorstellt.