Fünfzehn Quadratmeter mussten reichen: zum Schreiben, zum Archivieren von Manuskripten, zum Sezieren von Fischen und Fröschen, zum Unterrichten von Medizinstudenten, zum Schlafen. Zum Sterben. Im "Darmstadtium", dem Wissenschafts- und Kongresszentrum Darmstadts, haben Ausstellungsarchitekten das Zürcher Zimmer rekonstruiert, das Georg Büchner zuletzt und bis zu seinem Tod am 19. Februar 1837 bewohnte.

Eine "Schatzkammer der Weltliteratur" nennt Kurator Dr. Ralf Beil den Raum, der den Nachlass des "Revolutionärs mit Feder und Skalpell" bewahrte. Beil liebt große Worte - und darf sie brauchen: Immerhin verantwortet er die größte Büchner-Schau, die es je gab. Zwei Millionen Euro standen zur Verfügung; die nutzte er, um mehr als 400 Exponate zusammenzutragen und mit "sämtlichen Möglichkeiten moderner Ausstellungskunst" zu einer "suggestiven Inszenierung" zu arrangieren: Handschriften und Lebenszeugnisse, Tierpräparate und anatomische Studienobjekte, wissenschaftliche Instrumente, aber auch Gemälde und Karikaturen zur Erhellung der Zeitatmosphäre, eine alte Druckerpresse - eine Guillotine sogar. Hinzu kommen Theaterfotos, Bühnenbilder, Kostüme, "Multimediastationen zu Büchners Schreibstrategien", Musik- und Klanginstallationen. "Nicht weniger als einen neuen Blick auf Büchner" gewähre die Präsentation, verspricht ihr Chef vollmundig. "Wir stellen Büchners Wort aus, wir zeigen, was er gesehen, wir bringen zu Gehör, was er gehört hat, wir erschließen neue Tiefendimensionen der Texte."

Gründe dafür gibt es mehrere. Vor 200 Jahren, auf den Tag genau, kam der Autor, Naturforscher und Polit-Rebell im südhessischen Goddelau - heute Riedstadt, zehn Kilometer von Darmstadt entfernt - zur Welt; trotz seiner nur 23 Lebensjahre erlangte sein Schaffen Einzigartigkeit und unvergängliche Relevanz. Vor sehr bald hundert Jahren, am 8. November 1913, brachte das Münchner Residenztheater erstmals den unvollendeten "Woyzeck" auf eine Bühne. Und seit dem Sommer dieses Jahres, seit der Publikation des 18. Bandes, liegt die historisch-kritische "Marburger Ausgabe" des im Grunde schmalen OEuvres abgeschlossen vor.

23 Jahre - ein überschaubarer Zeitraum. Sollte nicht längst alles ausgeforscht, beschrieben und gesagt sein über Leben und Werk?

Wohl nicht. Dramatisch bewegt, überreich an geistiger Produktion verliefen die letzte fünf Jahre Büchners, den man sich - wenn man bekannte Porträts oder das erst jüngst auf einem Gießener Dachboden aufgestöberte (rechts) betrachtet - wohl so vorstellen darf wie seinen jugendlichen Lustspielhelden Leonce: "alt unter seinen blonden Locken".

Dem Leben nähert sich Jan-Christoph Hauschild auf bislang kaum beschrittenem Weg. In einem unlängst erschienenen Buch steigt er "Georg Büchners Frauen" nach, jenen aus dem wirklichen Familien- und Liebesleben ebenso wie, vor allem, den Prinzessinnen, Mätressen, Dirnen und Revolutionärs-Partnerinnen, einer Gouvernante und einer Großmutter seiner schriftstellerischen Fantasie; ein faszinierendes Panorama vielgesichtiger Weiblichkeit. In seinen Werken sang der Dichter eine eigenwillige "Skala der Liebe auf und ab" und traf dabei hochpoetische wie derbe Töne; wenngleich er seinem Körper, schon aus Gesundheitsrücksichten, offenbar "alle grobsinnlichen Vergnügungen" verbot.

"Außerhalb seiner Dichtungen", schreibt Hauschild, "verrät Büchner mehr als einmal Konformität mit den seinerzeit gesellschaftlich dominierenden Normen und Werten: Sensibilität gegenüber Sitte und Moral, schamhafte Rücksichtnahme auf das sogenannte schwache Geschlecht." Am ausführlichsten kommt Hauschild auf die Marie im "Woyzeck" zu sprechen - und erst recht, mit doppelt so vielen Seiten bedacht, auf Wilhelmine "Minna" Jaeglé, die Straßburger Verlobte. Aus ehrenwertem Gerechtigkeitsbedürfnis nimmt er sie vor dem nicht verstummenden Vorwurf in Schutz, den literarischen Nachlass des Geliebten aus falsch verstandener Pietät und Züchtigkeit verstümmelt zu haben.

Am kürzesten, doch ungemein vielsagend: das Kapitel über die Großmutter der "Woyzeck"-Fragmente. Den gerade einmal drei Sätzen des Märchens, das sie in bündiger Mundart erzählt, weist der Publizist die Grauenhaftigkeit einer "Moritat vom existenziellen Verlassensein des Menschen" nach: "Schwärzeren Nihilismus findet man bei Büchner nicht." Die weinende Waise, von der das Gleichnis bitter erzählt, sucht ihren Frieden im Himmel. Doch dort ist alles noch schlimmer: Als ein Stück phosphoreszierendes Faulholz entpuppt sich der Mond, die Sonne als verwelkte Sonnenblume, als Mückenschwarm das Sternenzelt, und die Erde, auf die das "arm Kind" obdachlos zu-
rückirrt, ist nur mehr ein "umgestürzter Hafen" (Schüssel, Nachttopf).

Das Leben konnte Büchner lieben, wie er Minna liebte, zärtlich aus ehrlichem Herzen; und er konnte es verachten, mit allen erlauchten Zeitgenossen und feudalistischen Zeitumständen, die es beschwerten: "Ich habe noch eine Art von Spott", schrieb er, "es ist der des Hasses." Und der Biograf Hauschild fügt hinzu, "diesem Hass" sei sogar im Lustspiel "Leonce und Lena" die "Komödienmaske lediglich vorgebunden".

"Leonce und Lena": eine von nur vier Dichtungen, durch die Georg Büchner sich Unsterblichkeit erwarb. Sie bilden, neben dem Leben, den Kern des Werks. Dazu gehören: "Dantons Tod", das Drama der Französischen Revolution, die blutrünstig im Terror der vorgeblich Tugendhaften erstarrt; das ungeordnete Szenen-Konvolut um den zum Opfer geborenen, zum Mord getriebenen Underdog Woyzeck; und der "Lenz", die "Novelle" über das mentale Verenden eines schizophrenen Dichterkollegen. Vielleicht blieb die Erzählung gleichfalls Fragment; vielleicht aber kam Büchner mit ihr ja doch bis an ihr letztes Ende, mit ihrem letzten, bodenlos entmutigten Satz: "So lebte er hin."

All das sollte, wer nur irgendein Verhältnis zu den "Klassikern" sucht, unbedingt lesen (was schnell geht). Aber auch hören kann man's: "Sämtliche Werke in legendären Hörspiel-Inszenierungen" liegen beim Hörverlag vor. Zwischen 1952 und 1980 entstanden die Aufnahmen beim DDR-, dem Hessischen und Bayerischen Rundfunk sowie bei Radio Bremen; große Stimmen spielen mit, die von Martin Held, Erich Ponto, Ursula Karusseit ...

Ganz unliterarisch hingegen: der Steckbrief, mit dem nach dem "Studenten der Medizin aus Darmstadt" gefahndet wurde; hatte sich der Revolutionär mit Feder und Skalpell doch "der gerichtlichen Untersuchung seiner indicirten Theilnahme an staatsverrätherischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen". Auf die Porträts des Dichters, der unter der Devise "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" den frühsozialistischen "Hessischen Landboten" mitverfasste, und, mag sein, auch auf Leonce, seinen gelockten Lustpiel-Prinzen, passt die "Personal-Beschreibung": "Alter: 21 Jahre ... Stirne: sehr gewölbt ... Nase: stark ... Mund: klein ... Augenbrauen, Bart, Haare: blond ..."

Da hatte Büchner keine zwei Jahre mehr zu leben. "Der Tod ist der seligste Traum", schwärmt Prinzessin Lena in ihrem Liebesduett mit Leonce. Nicht minder morbid fleht er zurück: "So lass mich dein Todesengel sein. Lass meine Lippen sich gleich seinen Schwingen auf deine Augen senken." Von Büchners eigenen Augen wusste das Signalement vom 13. Juni 1835 nur nüchtern zu berichten: "Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit."

Georg Büchner, höchstwahrscheinlich:

August Hoffmanns Bleistiftzeichnung

von 1833 tauchte in diesem Jahr auf

einem Gießener Dachboden auf.



So lass mich dein Todesengel sein.

Leonce zu Lena


Alt unter seinen blonden Locken.

Über den Prinzen in "Leonce und Lena"


Theilnahme an staatsver- rätherischen Handlungen.

Aus dem Steckbrief


Eine Schatzkammer der Weltliteratur.

Kurator Dr. Ralf Beil


Wo gibt es was?

Ausstellung: Georg Büchner - Revolutionär mit Feder und Skalpell. Darmstadt, Wissenschafts- und Kongresszentrum "Darmstadtium", bis zum 16. Februar (außer montags). Internet: www.mathilden-
hoehe.eu/ausstellungen/georg-
buechner/

Katalog: Essays und über 400 Abbildungen, herausgegeben von Ralf Beil und Burghard Dedner. Verlag Hatje Cantz, 612 Seiten, gebunden, 58 Euro.

Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchners Frauen. 20 Porträts. dtv, 271 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.

Georg Büchner: Die Hörspiel-Edition. Hörverlag, 5 CDs, 24,99 Euro.