Es passiert auch was in der Geschichte. Sogar eine "unerhörte Begebenheit" ereignet sich, wie sie die Literaturtheorie einstmals für die Gattung der Novelle vorschrieb: Zwei Studenten fahren übers Land, um im Kaff Bargfeld den abgeschottet hausenden Schriftsteller Arno Schmidt heimzusuchen. Wirklich tritt der Verehrte, durch einen Trick angelockt, ihnen entgegen: "Etwas enttäuschend der Mann, sah aus wie ein Versicherungsangestellter, allerdings in Freizeitkleidung." Aber Novelle sollte Uwe Timms neues Buch, das er so untertitelte, trotz solchen Gipfelpunkts nicht heißen: Denn er erzählt darin kunstvoll sprunghaft statt linear, die Zeiten, Perspektiven, Ansichten wechselnd, verwischend. Als wär's die Erinnerung selbst, die da erzählt: Sie tut es so, wie's ihr beliebt.

Viel Autobiografisches fischt der Autor "aus der Grabbelkiste der Vergangenheit". Von seiner Vorliebe für das Schaffen Schmidts weiß man so gut wie von seiner Prägung durch die 68er-Studentenrevolte. Auf die schauen in seiner Geschichte zwei ältere Herren im ostdeutschen Anklam zurück: Während des Studiums waren sie sich regelmäßig mittags begegnet, am "Freitisch", den ihnen, ihrer Bedürftigkeit halber, eine Versicherung nahrhaft deckte - und der Timms Buch den Titel gab. Heute haben die Esser von einst ihre literarischen Ambitionen, die sozialen Lebenspläne längst aufgegeben; damals aber spürten der Ich-Erzähler, der Mathematiker Euler - heute Entsorgungs-Unternehmer - und der Jurastudent Falkner stets einen "Stoß", sobald bei Tisch auf Arno Schmidt die Sprache kam. Und es wurde über ihn immer - nie über Privates - gesprochen.

Viel Zeit braucht man nicht für die "Novelle"; nur etwas Langmut. Denn Timms Hommage erschließt sich umso anziehender, vergnüglicher und melancholischer, je mehr der Leser über die Auf- und Umbruchszeiten der bundesrepublikanischen Jugend, über Schreiber, Denker und Gedachtes der Epoche weiß. Schmidts "Kühe in Halbtrauer" stapfen durch die Geschichte, auf "Zettels Traum" folgt süßes oder unliebsames Erwachen, sogar "Wittgenstein winkt aus der Ferne". Auf eine Zeit besinnen sich Timm und seine schwatzenden Herren, da "die Stimme der Dichter noch Strahlkraft hatte" und niemand zu glauben sich schämte, "sogar aus alles klein schreibenden Experimentalpoeten spräche ein Höheres". Gute alte Zeit.

Den über 1500 Drei-Spalten-Seiten von "Zettels Traum" stellt Timm ironisch die nicht mal 140 luftigen Seiten seiner "Novelle" an die Seite, ohne dass die übermächtige Nachbarschaft sie zermalmte. Die Anhänger des "Meisters", schrieb unlängst die Zeit, ließen sich scheiden in kritiklose "Schmidtioten" und kreativ-verständige "Schmidtianer". Niemandem dürfte einfallen, zu fragen, wozu Timm wohl gehört. Michael Thumser

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Uwe Timm: Freitisch. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 136 Seiten, gebunden, 16,95 Euro.