Herr Sammet, was hat Sie zu diesem Buch bewogen?

Ich interessierte mich schon sehr früh für Industrie und Wirtschaft, was wohl unter anderem daran lag, dass meine Vorfahren in diesem Bereich tätig waren. Ich bin in Rehau, einer Industriestadt aufgewachsen. "Dirty old Town", so nannte ich sie, nach einem Song von Ewan McCall. Zwei bedeutende Aspekte spielten eine Rolle: zum einen die Geschichte meiner Familie, zum anderen meine eigene Geschichte - denn ich habe in der Porzellanfabrik Zeh, Scherzer & Co. AG, gearbeitet.

Drei große Kapitel widmen Sie den Stadtbränden in Hof, Rehau und Selb. Welche Veränderungen brachten sie?

Bei aller Tragik, die Großfeuer im 19. Jahrhundert haben für eine Art Flurbereinigung gesorgt. Sie haben eine soziale Neuorientierung angestoßen, und das Terrain für die Industrialisierung freigeräumt. Der Übergang glückte auch wegen der nachwirkenden Bergbautradition und der vorindustriell betriebenen Eisenverhüttung. Leicht wird ein anderer Faktor, die Versorgung der in die Arbeitswelt abgewanderten Landbevölkerung, übersehen. Dabei spielt der sich seit dem 17. Jahrhundert ausbreitende Kartoffelbau eine tragende Rolle. Er ermöglichte die Industrialisierung auch der Lebensmittelproduktion. Aus Kartoffeln ließen sich Stärke, Kartoffelmehl und andere für die massenhafte Herstellung von Konsumgütern taugliche Halbfabrikate gewinnen.

Wie waren die Arbeitsbedingungen in den Fabriken?

Oft wirklich grausam. Viele Menschen erkrankten an Tuberkulose, so auch meine Großmutter. Die Lebenserwartung lag nur zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Wer im Steinbruch arbeitete, hatte eine noch geringere. Ich vertrete allerdings nicht die These, gewissenlose Arbeitgeber hätten die Arbeitnehmer ausgebeutet. Die meisten Arbeiter strebten nach sozialem Aufstieg.

Kinderarbeit gibt es noch heute. Wie war das damals?

Kinderarbeit gab es, in der Bauerngesellschaft war das völlig normal. Die Fabrikanten stellten die Kinderarbeit relativ früh wieder ein, da sie erkannten, dass Bildung und Erziehung wichtiger waren. In den Porzellanfabriken, später auch in den Spinnereien und den Leder verarbeitenden Betrieben, brauchte man nämlich Spezialkräfte mit Fertigkeiten, für die es einer Ausbildung bedurfte.

Wie waren die Menschen früher versichert?

Das war von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Entweder war man über den Chef oder über die Gewerkschaften versichert. Erst in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es Versicherungen, wie wir sie heute kennen.

Wurde früher Heimarbeit geleistet, oder fand die Arbeit hauptsächlich in den Fabriken statt?

Heimarbeit war Anfang des 19. Jahrhunderts noch weit verbreitet, hatte aber keine Zukunft. Die Hand-
weberei, ob in den Städten oder
auf dem Land, konnte der indust-
riell produzierten Konkurrenzware nicht standhalten und bildete auch nicht die materielle Basis der In-
dustrialisierung. In Hof ist nicht einem Manufakturbetrieb aus sich heraus der Sprung in die industriel-
le Moderne gelungen. Alles lief auf
einen Neuanfang unter grundle-
gend veränderten Bedingungen zu.

"Früher war alles besser" - das glauben viele. Können Sie das auf die Industriegeschichte übertragen?

Die Region hat auch heute ein enormes Potenzial. Sie muss sich vor niemandem verstecken. Es gibt keinen Grund für irgendeine Verzagtheit. Die Situation ist durchaus der vor zweihundert Jahren vergleichbar. Eine Strukturwandel ist unumgänglich, aber man kann sich dabei auf ein reiches Maß an Tugenden, Fertigkeiten und auf eingespielte Verhaltensformen stützen. Potente Unternehmen sind vorhanden, bestens geschulte Arbeitskräfte, und an Ideenreichtum herrscht kein Mangel. Man muss wirklich nicht missmutig dreinschauen, auch dort nicht, wo es manchmal hakt.

Beim Lesen fallen die Stilwechsel in Ihrem Buch auf. Welche Absicht steckt dahinter?

Ich verwende drei Stilarten: die Reportage, den Essay und den Ton des historischen Sachbuchs. Jedes Kapitel steht für sich und kann unabhängig von den anderen Kapiteln gelesen werden. Es geht in meinem Buch nicht um Lokalgeschichte, sondern um ein Kapitel der allgemeinen Industriegeschichte, für die diese Region ein anschauliches Beispiel gibt.

Welche Botschaft möchten Sie mit ihrem Buch vermitteln?

Ich möchte der Region mit diesem Rückblick auch Mut für die Gegenwart machen. Hier mag einiges brach liegen, aber es haben sich ja auch zahlreiche Unternehmen neu positioniert. Die Geschichte der Städte nach den verheerenden Bränden hat gezeigt, wie man eine solche Übergangsphase ertragreich gestaltet. Man sollte sich diese Vergangenheit in all ihrer Widersprüchlichkeit genau anschauen und bewerten.

Wie sind Sie auf den Titel Ihres Buches gekommen?

Der Titel "Erloschene Feuer" spielt auf beides an, auf das Erlöschen der Brände, den Wiederaufbau danach und auf das Ende der klassischen Industrie des Dampf- und Kohlezeitalters. Der zweite Teil des Titels, "Industrie & Glück", kommt von einer Tarotkarte aus Böhmen. Auf der war ein behauener Felsen zu sehen, mit diesem in ihn gravierten Motto. Industria, der Fleiß, wird mit einem Glücksversprechen verknüpft - das man auch spielerisch angehen kann. Darum ging es mir auch.

Das Gespräch führte Amelie Rödel

Zur Person

Gerald Sammet, geboren 1949 in Rehau. Abitur am Hofer Schiller-Gymnasium. Studium der Chemie, dann Geschichte. Lebt und arbeitet in Bremen bei der ARD. Bücher unter anderem: "Schiefe Ebene. Ein Almanach für Eisenbahnbauer" und "Der vermessene Planet".