Selb - Mitten im Foyergetümmel machen sich zwei kleine Jungs die Musik zu eigen: Während die Tschechen Petr Valásek und Jirí Pazour mit der Bassklarinette und am Klavier temperamentvoll oder impressionistisch aufspielen, tanzt, wirbelt, saust der vielleicht dreijährige Jussuf zwischen den Beinen der sich drängenden und plaudernden Menschen hindurch, fix verfolgt vom etwa fünf Jahre älteren Christian; in all dem Lärm laut lachend beide: eine Art fröhlicher Pas de deux.

Eher abseits werkelt Thomas Götzl umso einsamer. Zur Station "Malen 2" hat sich der stille Abiturient aus Schwarzenbach am Wald zurückgezogen. Akribisch entwirft er auf einem Skizzenblatt mit Blei- und Tuschestiften die starken und feinen Konturen eines Graffitos: Als "graphic" lässt sich, bei genauem Hinsehen, der räumlich verschachtelte Schriftzug entziffern. Als Kunst ist er gemeint. "Auf mein Garagentor geschmiert", gibt der Zeichner manierlich zu, "sähe auch ich so etwas nicht gern." Eine "Lange Nacht der Künste" hat sich der Kunstverein Hochfranken Selb am Sonntag Zeit genommen. "Künste": Plural. Um dem vom späten Nachmittag an zahlreich erscheinenden Publikum zu demonstrieren, wie sich "Mit den Augen denken - Mit den Ohren fühlen" lasse, haben Hans-Joachim Goller und Gefährten aus dem Verein eine beachtliche, fortwährend bewegte Zusammenschau der Bild- und Ton-, der Wortkunst und des Tanzes, der Fotografie und des Films aufgeboten. Neuerlich folgte Goller, treibende Kraft in der seit 25 Jahren bestehenden Vereinigung, seinem Anliegen, nah an der Grenze zwischen Deutschland und Tschechien Akteure von beiden Seiten zusammenzuführen. Ein "Miteinander der Kunstsparten" wie der Menschen.

Nicht nur Ergebnisse sollten sichtbar werden, erläutert Goller in seiner Einführung, sondern auch der "Prozess", durch den Kunst entstehe. So will er übers "oberflächliche Spüren" hinaus an "Gemüt und Geist" der Besucher des Rosenthal-Theaters "in der Tiefe" rühren. "Wir werden", sagt er, "erst am Ende wissen, was dabei herauskommt". Das "Ende" gibt er mit etwa 23 Uhr an. Aber schon Stunden zuvor steht fest, dass es Goller gelang, "darüber hinaus auch noch die Geselligkeit unter den Menschen" in die Künste einzubeziehen.

Dass man Reden hält, bleibt nicht aus. Zum "Silberjubiläum" gratuliert namens des Landrats und der oberfränkischen Regierung ihre Vizepräsidentin Petra Platzgummer-Martin, die den über 300 Kulturvereinen in der Republik die Rolle einer "zentralen Vermittlungsinstanz" zuschreibt. Als Fest- und Hauptredner bat Goller den prominenten Essener Kulturpolitikexperten Oliver Scheytt nach Selb. Der versteht es, sich dem sperrig formulierten Thema "Gesellschaftliche Relevanz und individuelle Wirkungen von Kunst und Kultur" frei und unterhaltsam sprechend anzunähern.

Zwischen dem Schöpfer eines Kunstwerks einerseits und dessen Konsumenten und Genießer andererseits spannt Scheytt eine "kulturelle Wertschöpfungskette" aus, an deren Enden zwar Individuen mit ihrer je subjektiven Wahrnehmung stünden, zu der aber dazwischen mancherlei Institutionen, Produktionsweisen, Funktionen des Markts gehörten. Der materiellen Bewertung eines womöglich Millionen Euro teuren Kunstwerks stellt er dessen immaterielle Wirkung gegenüber, fordert von Künstler und Konsument gleichermaßen "Eigensinn", aus dem in der Gesellschaft kultureller "Gemeinsinn" erwachsen könne, und verweist den Verein in Selb auf die Herausforderungen durch den "mentalen Kapitalismus" in der digitalisierten Welt. "Da haben Sie während der kommenden 25 Jahre viel zu tun."

Mal zu mehr und mal zu weniger Kunstgenuss fordert die große Ausstellung in den Foyers heraus. Darin zeigt der Verein aus seiner Sammlung vor allem Arbeiten, die während der von Goller initiierten deutsch-tschechischen Projekte gehörten: "Verknüpfungen", "Miteinander!" etwa hießen sie symbolkräftig und zeitnah, 2014, "Kultur - Stadt - Nachhaltigkeit".

Von dreien der Bilder ließ sich Wolfram Graf zu seiner (zweiten) Auftragsarbeit für den Kunstverein inspirieren. Auf der Theaterbühne erlebt das Publikum den Hofer Komponisten und das "Pi-Kap-Quartett" aus Karlovy Vary mit der Weltpremiere der "Bewegungen"; so überschrieb Graf sein neues Klavierquintett. "Im Licht des Mondes" - diesen Titel trägt ein Bild von Vladimir Véla - bewegt sich zwischen Tongespinsten und Glockenschwüngen nicht die Musik allein, desgleichen auch die junge Prager Tänzerin Jindriská Krivánková; zwei Stunden später, bei der Wiederholung, agieren statt ihrer Barbara Buser und Witali Damer vom Theater Hof auf der Bühne. Schroff, aber wie in Pavel Rouckas Bild "Bei dem Steinbruch" auch farbenreicher geht es im zweiten Satz zu, dem der abschließende dritte, von einem Bild Lenka Maliskás angeregt, die innere Ruhe und gelöste Schönheit eines verwunschenen Ortes entgegensetzt: "An den Weihern".

Währenddessen vollziehen sich "Prozesse" an der Station "Malen 1". Dort verwirklichen sich Evelína Vanecková, Tereza Lisková und Vojtech Tupý an hohen, schmalen Leinwänden und lassen sich bei Formerfindung und Farbauftrag über die Schultern schauen. Wen das Stehen ermüdet, der darf eine Treppe höher auf Stühlen Platz nehmen, bei zwei Autorinnen, die im Wechsel aus ihren Texten vortragen: Lydia Daher aus Augsburg und Milena Oda. Während die Pragerin die "Stationen", Schau- und Hörplätze der "Langen Nacht" durchstreift, um die Flaneure für die Lesung zusammenzutrommeln, strahlt sie, zur "Geselligkeit" einladend, rotbackig über das ganze Gesicht.

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Ausstellung geöffnet bis zum 29. März. Führung am Sonntag um 10.30 Uhr.

Übers oberflächliche Spüren hinaus.

Hans-Joachim Goller