Erlangen - Er ist erst elf, als er seine Mutter sterben sieht. Erschlagen von einem Stein, den gelangweilte Halbstarke von einer Autobahnbrücke geworfen haben. Der kleine Kai wartet nicht, bis Polizei oder Sanitäter kommen. Er rennt in den Wald, auf der Flucht vor der Realität, schließt sich einer dort campierenden Zirkustruppe an, verkriecht sich in einer neuen, ganz fremden Welt.

In ihrem Roman "Jage zwei Tiger" - es ist ihr zweiter nach dem höchst umstrittenen Debüt "Axolotl Roadkill" von 2010 - verfolgt Helene Hegemann die von der Katastrophe erzwungene Zeitraffer-Reife des traumatisierten Jungen. Bei ihrer Lesung im Erlanger Schlossgarten hastet Hegemann derart atemlos durch den Text, dass es das Poetenfest-Publikum fast von den Bierbänken bläst. Schnell, schrill und rotzfrech ist die Sprache der erst 21-jährigen Berlinerin in dieser doppelten Coming-of-Age-Analyse, denn neben Kai wird auch die neue Freundin seines Vaters, die gerade 17-jährige wohlstandsverwahrloste Cecile, in dem Roman erwachsen, der sich - in aller sprachlichen Gnadenlosigkeit - doch um die Liebe dreht. Oder zumindest um die Sehnsucht danach.

Es sind die rasanten, abstrusen, dramatischen, gelegentlich auch zutiefst melancholischen Fluchten der Protagonisten, die in diesem Jahr die Besucher des größten fränkischen Schriftsteller-Festivals mitreißen in andere Welten. Und die damit den Lesenden selbst beim Versinken zwischen den Buchdeckeln kleine Fluchten aus dem Alltag ermöglichen.

Fiebernd begleiten sie den Berner Altphilologen Raimund Gregorius, der im "Nachtzug nach Lissabon" sein Lehrerleben zurücklässt, um in Portugal neu zu erwachen (Dem Weltbestseller-Autor Pascal Mercier alias Peter Bieri ist in Erlangen eines der großen Autoren-Porträts gewidmet). Verblüfft verfolgen sie mit Jonas Lüschers Helden Preising in der spannenden Novelle "Frühling der Barbaren", wie schnell die dünne Decke der Zivilisation zerreißt, um die darunter notdürftig verborgenen menschlichen Abgründe freizugeben: globalisiertes Grauen.

Kopfschüttelnd durchwandern die Literatur-Fans das ungeheuerliche Leben des Hochstaplers Joel Spazierer, das Michael Köhlmeier vor ihnen ausbreitet: Er ist erst vier, als seine Großeltern in Budapest von Stalins Schergen abgeholt werden. Tagelang schlägt sich Joel allein in der großen Wohnung durch. Nie wieder wird er andere Menschen brauchen, es sei denn, um sie zu benutzen. Das süße Kind mutiert zum Monster, sein Leben füllt sich - und erfüllt sich - mit Lügen. Auf der Flucht aus der realen Welt der anderen lässt Joel das alte Ich zurück. Autor Köhlmeier meint, sein gelegentlich sogar mordender Held sei dabei nicht mal unmoralisch: "Er hatte ja nie die Chance, Moral zu erfahren. Er hat nie gelernt, was gut und böse ist."

Immer wieder hat das Poetenfest während des Dritteljahrhunderts seines Bestehens nicht nur zeitgenössische Autoren präsentiert, sondern erinnert auch an die toten Dichter. In diesem Jahr gilt die Hommage Jean Paul, dem 1763 in Wunsiedel geborenen wortmächtigen Franken, der so phantastisch-ausschweifend wie kein anderer seiner Zeit einen literarischen Fluchtwelten-Kosmos erschaffen hat. Nora Gomringer und Brigitte Kronauer widmen ihm einen Abend in der Orangerie. Ein mit Jean-Paul-Zitaten bestückter intellektueller Trimm-Dich-Pfad lädt zum Gehirn-Jogging durch die Stadt. Die Nürnberger Künstlerprojekte "falschtechst-schlachtfest" und "Wortwerk" haben des Dichters Zettelkasten digitalisiert, mit Barcodes etikettiert und ganz gegenwärtig alles mit allem vernetzt. Der Poet, der schon vor über 200 Jahren so souverän mit geistigen Hyperlinks experimentierte, wäre wahrscheinlich beglückt gewesen.

Rücksturz in die Gegenwart: Mit Terézia Moras Romanhelden Darius Kopp aus "Das Ungeheuer" flüchtet das Poetenfest-Publikum vor dem Schmerz der Trauer quer durch den Balkan, die Asche der toten Ehefrau ebenso im Gepäck wie die quälenden Erinnerungen. Monika Zeiners Protagonist, der Jazz-Musiker Tom Holler in "Die Ordnung der Sterne über Como", flüchtet nach der Trennung von seiner Frau in die Musik und in die Vergangenheit einer Jugendliebe. Zwei literarische Road-Movies. Monika Maron dagegen nagelt in "Zwischenspiel" ihre Heldin fest in Berlin, auf dass sie sich "abstrample in ihrem kleinen Leben". Doch auch ihr gelingt, wenn auch nur für wenige Stunden, die Flucht ins Surreale, in tiefgründige und humorvolle Begegnungen mit toten Wegbegleitern.

Sie sind erst vierzehn, als sie zufällig den Mord beobachten, der ihre Beste-Freundinnen-Welt auf den Kopf stellt. Nini und Jameelah, mehr Gören als Girlies, haben längst beschlossen, der Kinderwelt zu entfliehen. Sie saufen selbstkreierte Alkoholbomben, gehen nur zum Spaß auf den Strich, scheren sich einen Dreck um Konventionen. Zwei Randfiguren aus der Mitte unserer immer mitleidloser werdenden Gesellschaft. Stefanie de Velasco begleitet in ihrem ungestümen, erfrischenden Debüt "Tigermilch" das schlagartige Erwachsenwerden dieser mit scheinbar grenzenloser Abgebrühtheit gepanzerten zarten Pflänzchen.

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Peter Bieri, "Eine Art zu leben - Über die Vielfalt menschlicher Würde", 384 Seiten, Hanser-Verlag, 24,90 Euro.

Helene Hegemann, "Jage zwei Tiger", 320 Seiten, Hanser-Verlag, 19,90 Euro.

Michael Köhlmeier, "Die Abenteuer des Joel Spazierer", 656 Seiten, Hanser-Verlag, 24,90 Euro.

Jonas Lüscher, "Frühling der Barbaren", 125 Seiten, Verlag C. H. Beck, 14,95 Euro.

Monika Maron, "Zwischenspiel", 192 Seiten, Verlag S. Fischer, 18,99 Euro (erscheint erst Ende Oktober).

Pascal Mercier, "Nachtzug nach Lissabon", 496 Seiten, Hanser-Verlag, 24,90 Euro (btb-Taschenbuch 9,99 Euro).

Terézia Mora, "Das Ungeheuer", 688 Seiten, Luchterhand-Verlag, 22,99 Euro.

Jean Paul, verschiedene Werke, zum Beispiel im Insel-Verlag.

Stefanie de Velasco, "Tigermilch", 288 Seiten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 16,99 Euro.

Monika Zeiner, "Die Ordnung der Sterne über Como", 607 Seiten, Blumenbar-Verlag, 19,99 Euro.

Stand in Erlangen im Mittelpunkt eines großen Autoren-Porträts: der Weltbestseller-Autor Pascal Mercier alias Peter Bieri. Fotos: ah


Er hatte ja nie die Chance, Moral zu erfahren. Er hat nie gelernt, was gut und böse ist.

Schriftsteller Michael Köhlmeier

über seinen Protagonisten Joel


falschtechst-schlachtfest

Name eines Nürnberger Künstlerprojekts, das Jean Pauls Zettelkasten mit allem vernetzt hatte