Der preisgekrönte Roman "Daniel Stein" der russischen Autorin Ljudmila Ulitzkaja orientiert sich an historischen Tatsachen. Die Titelfigur des Buches hat tatsächlich gelebt: Vorbild war der Mönch Oswald Rufeisen, der in seinen letzten Jahren in einem katholischen Kloster im israelischen Haifa lebte und 1998 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Die Umstände, warum die Bremsen seines Autos plötzlich versagten, wurden nie aufgeklärt. Es gibt Vermutungen, dass der Unfall ein getarntes Attentat war.

Ljudmila Ulitzkaja ist Oswald Rufeisen im Jahr 1992 selbst begegnet. Dieses Treffen hat sie so stark berührt, dass sie begann, die Biografie des Priesters zu recherchieren.

Als polnischer Jude hat Daniel Stein in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Flucht Hunderter Juden aus dem Ghetto im weißrussischen Emsk organisiert und damit deren Leben gerettet. Das gelingt ihm ausgerechnet durch seinen Übersetzer-Job bei Hitlers Gestapo. Dort hat er Zugang zu geheimen Papieren und Befehlen. Daniel Stein ist als Partisan in den weißrussischen Wäldern aktiv, später, nach der Befreiung des Landes durch die Rote Armee, arbeitet er für das NKWD, das Innenministerium der Sowjetunion. Er überlebt drei Todesurteile, versteckt sich in einem Nonnenkloster, wird katholischer Mönch und emigriert nach Israel, wo ihm der Staat lange Zeit die Einbürgerung verweigert. Der Vatikan belegt ihn mit einem Bann. Aus Sicht der orthodoxen Juden ist er "kein richtiger Jude", aus Sicht der katholischen Kirche ein zweifelhafter Priester.

"In seiner zweiten, relativ ruhigen Lebenshälfte, die er als Priester in Israel verbrachte", schreibt Ljudmila Ulitzkaja im Vorwort des Buches, "leistete er Großes. Mit seiner Liebe und Barmherzigkeit baute er Brücken zwischen Menschen, die unter Einsamkeit und mangelndem gegenseitigen Verständnis litten. Katholische Juden, rechtgläubige Russen, Juden, Araber und Menschen, die ihre nationale und religiöse Zugehörigkeit nicht zu definieren wussten, suchten bei ihm geistlichen und praktischen Beistand ... Daniel Stein war überzeugt, dass richtiges Handeln wichtiger sei als jede Lehre, und ein gerechtes Leben mehr wert war als Dogmen, Deklarationen und Gesetzestexte."

Die Ergebnisse von Ulitzkajas Recherchen bilden die Grundlage des knapp 500-seitigen Romans. Er bezieht seine Wirkung aus einer Collage von Texten: Briefe, Tagebucheinträge, Interviews, Vorträge, Gesprächsnotizen, Erzählstücke, Archivdokumente und Reiseprospekte lassen den Leser eintauchen in die Welt des Daniel Stein und der Menschen, die das Ghetto überlebten und in aller Welt verstreut sind. Entsprechend wechseln auch die Schauplätze des Buches zwischen den USA, Polen, Russland, Litauen oder Israel.

Ewa Manukjan etwa, die Ulitzkaja als literarische Figur in die Handlung einfügt, lebt in Boston, USA. Mit einem Tagebucheintrag von Ewa beginnt das Buch im Dezember 1985. Der Leser erfährt, dass Ewa im November 1942 im "Schwarzen Wald" bei Emsk als Tochter einer geflohenen Jüdin geboren wurde. Ihren Vater kennt sie nicht, und von der Mutter erfährt sie nicht viel über die schwierigen Jahre ihrer frühen Kindheit. Und so begibt sich auch Ewa auf die Spuren ihrer abenteuerlichen Vergangenheit - zur Freude des Lesers, in dessen Kopf sich die Puzzleteile aus den unterschiedlichen Biografien allmählich zu einem Bild zusammenfügen und dem Ljudmila Ulitzkaja ein selten spannendes Leseerlebnis beschert.

Ljudmila Ulitzkaja: Daniel Stein. Carl Hanser Verlag, gebunden, 496 Seiten, 24,90 Euro.