Trauen kann man ihm nicht. Stammen seine Stoffe aus der Wirklichkeit? Sollte der Autor - manche formale Wendungen wollen darauf hindeuten - dergleichen womöglich selbst erlebt haben? Oder bereitet es ihm nur Freude, Lebenslagen und Lebenslügen von glasklarer Konstruktion zu erfinden und seine Figuren darin laufen und irren zu lassen wie die hilflosen Geschöpfe eines vergnügungssüchtigen Gottes?

Vor Henry James, dem englischen Autor mit US-amerikanischer Herkunft, fürchtet sich selbst mancher hartgesottene Leser: vor einem Praktiker und Theoretiker des Romans an der Schwelle der Moderne, einem tiefen Psychologen vor Erfindung der Tiefenpsychologie. Oft diffizil entspinnen sich seine Handlungsverläufe, von ausführlichen Reflexionen ein ums andere Mal gehemmt. Wer so denkt, sieht sich nun eines Besseren belehrt: Kennenzulernen ist, in einer Erstübertragung aus dem Haus Manesse, der große Autor in kleineren Früh- und Nebenwerken. Die freilich erweisen sich ganz und gar nicht als Fingerübung oder Gelegenheitsprodukt.

"Benvolio" heißt eine der Erzählungen; sie gibt, südländisch wohllautend, der ganzen Sammlung den Titel. Fünf Meisterstücke enthält sie insgesamt, und Ingrid Rein übersetzte sie so, dass sich unmittelbar die staunenswerte Eleganz ahnen lässt, die zur Originalsprache des 1843 in New York geborenen, 1916 in London gestorbenen Erzählers von den frühen Jahren an gehörte. Elmar Krekeler verfasste ein gleichgesinnt geschmeidiges Nachwort, das manche Frage als begründet bestätigt, die beim Lesen zuvor aufgetaucht sein mag.

Konstruktionen: Noch wo Schicksalsschläge oder -wendungen ein Leben in die Sackgasse lenken, schwingt Sarkasmus mit. Von einem "Lustspiel, in dem auch Tränen vergossen werden", ist in der Erzählung "Der Weg der Pflicht" die Rede - der Protagonist verzweifelt darin an der Unvereinbarkeit von Ehe und Liebe, Leidenschaft und Vernunftbeziehung. Und gleich in der ersten Geschichte, "Ein Landschaftsmaler" - um einen zivilisationsüberdrüssigen Künstler, der an wilder Küste einer nur scheinbar unbedarften Schifferstochter ins Netz geht -, gleich hier erzählt James von einem Kapitän und dessen "schönen Verdrehungen der Tatsachen"; an ihnen findet der Ich-Erzähler Gefallen, aus gutem Grund: "Weil ich mich selbst einer solchen Verdrehung bediene, weil ich selbst unter völlig falscher Flagge segle." Für Henry James gilt das oft auch.

In Krekelers Nachschrift finden sich die jamesschen Motive zum Nachprüfen klug aufgelistet: "Das Spiel mit der Perspektive, das Spiel mit der Moral, mit dem Verpassen, dem Missverstehen von Gefühlen, die Schwachheit der Männer, die Stärke der Frauen, die Unmöglichkeit der (auch körperlichen) Nähe." Kaschiert von den perfekten Manieren und der feingesellschaftlichen Konversation des 19. Jahrhunderts, tun sich nicht in, aber zwischen den Menschen Abgründe auf. Henry James denkt nicht daran, sie trotz der Luftigkeit seiner Handlungsgefüge, trotz der Noblesse seiner Wortkunst nachsichtig zu überbrücken: Er formuliert eine Prosa der allseitigen Kultiviertheit und der schlummernden Katastrophe in ein und demselben Atemzug. Michael Thumser

Henry James: Benvolio. Manesse-Verlag, 416 Seiten, gebunden, 22,95 Euro.