Seiner Tochter erzählt Michael die Geschichte auf schlichteste Art: Er war fünfzehn; er wollte von der Schule nach Hause; er fühlte sich krank; und eine Frau hat ihm geholfen.

Bernhard Schlink, der Schriftsteller, erzählt weitaus komplexer davon. Hanna, die wohltätige Zufallspassantin, ist zwanzig Jahre älter als Michael. Und doch fällt es ihr ein, dem gelehrig Unerfahrenen die Liebe beizubringen. Vor die Lust setzt sie die Literatur: Michael, „Der Vorleser“, trägt ihr aus Homers „Odyssee“ oder der „Lady Chatterley“ vor (die sie unanständig findet). Denn, was das „Jungchen“ nicht ahnt, seine unberechenbare Mentorin kann weder lesen noch schreiben. Als Student der Rechte sieht er sie nach Jahren wieder: In einem Kriegsverbrecherprozess gesteht sie den Mord an 300 KZ-Häftlingen. Am Grauen würgt Michael und kann doch Hanna nicht vergessen; auch später nicht, als renommierter Jurist. In ihre Zelle schickt er ihr Kassetten, die er selbst mit den Büchern von einst besprach. Dreißig Jahre zuvor schon hat er für sie Schiller zitiert: „Die letzte Hand an die Seelen legt nur die Liebe.“

In Schlinks weltliterarischem Erfolgsroman von 1995 wie in der Verfilmung durch Stephen Daldry („The Hours“) legt Hanna am Ende Hand an sich, ohne ungeteilte Einsicht in ihre Schuld: „Niemand muss sich für irgendwas entschuldigen“, legt sie für Michael fest; und: „Was hätten Sie an meiner Stelle getan?“, fragt später, im Film, Kate Winslet den empörten Richter. Mit der Künstlerin führt eine Protagonistin das prominente, internationale Ensemble an, die unter ihren sich verhärmenden, verhärtenden Zügen nur zögerlich auch Schönheit ahnen lässt und die in nie wirklich freien Bewegungen das „Geheimnisvolle“ ausdrückt, von dem Michael im Deutschunterricht hört. Neben der jüngst gekürten Oscar-Preisträgerin und ihrer ungreifbaren Intensität könnte ihr junger Partner David Kross („Krabat“) leicht verblassen – doch er erspielt sich imponierend eigene Freiräume als überrumpelter Jüngling, erwachender Zweifler, entsetzter Zeuge – als Liebhaber, der seine Unschuld nie vollends verliert. Damit verglichen, weiß der sonst so vielschichtige Ralph Fiennes, als erwachsener Michael, kaum mehr als ein betroffenes Gesicht zu machen.

Dabei geht es um Bedeutsameres als um wohlfeiles Betroffenheitskino. In Daldrys so detaillierter wie dichter Inszenierung – beiläufig eine Reise durch drei deutsche Nachkriegsepochen – verrätseln sich menschliche Beweggründe mehr und mehr, während sich Abgründe immer unmenschlicher auftun. Über die KZ-Aufseherin spricht das hohe Gericht ein Urteil, nicht aber der Film, so wenig wie die Buchvorlage des Juristen Schlink. Nur das Gesetz, aber kein moralischer Maßstab wird einer solchen Schuld gerecht. Und doch stellt dies nachhaltig bewegende Drama mutig die Frage nach dem Menschen, der noch in dem steckt, der Unsühnbares auf sich lud. Michael Thumser