Der Herr ist Germanist, zugleich aber Fachmann für Orgeln. Da hat er es mit einem Instrument zu tun, dessen vielerlei Register wie Flöten, Gemshorn oder Gambe klingen können; dennoch liegt jedem Ton dieselbe Art der Entstehung zugrunde: In einer Röhre schwingt eine Säule aus Luft.

Mit den Dialekten ist es ähnlich. Sie gehen alle von derselben Urform aus, der deutschen Sprache, und unterscheiden sich freilich oft gründlich in Lautfärbung, Wortschatz und Satzbau. Oder verhält es sich umgekehrt? Ergeben erst alle Dialekte zusammen das Deutsche? Ist Hochdeutsch vielleicht nur die Idee einer Sprache, die niemand in Wirklichkeit spricht?

Der orgelkundige Herr, der als Sprachforscher darauf die Antworten weiß, hat mit ihnen ein leicht lesbares, sehr informatives, dabei unterhaltsames Buch verfasst: "Alles außer Hochdeutsch" überschrieb Karl-Heinz Göttert seinen bei Goldmann erschienenen "Streifzug durch unsere Dialekte". Die taugen als Identitäts- und Unterscheidungsmerkmal; im Angesicht der Globalisierung, das räumt der 69-jährige, emeritierte Kölner Professor ein, lassen sie "Nestwärme" spüren, bieten "gesprochene Heimat" (und laden überdies ins "Museum der Sprache" ein). Wie das Deutsche überhaupt, verändern sich, als "lebendige Körper", auch seine Dialekte fortwährend. Aber sie bleiben am Leben und stärken sich gar. Der Autor verweist auf einen Einführungskurs ins Sächsische, der unlängst westdeutschen Studenten in Leipzig bei der Integration helfen sollte. "Nur ein frecher Dialekt ist ein guter Dialekt."

Götterts Beispiele aus allen Regionen des Fränkischen belegen: Es gibt "kein Hochfränkisch" - nicht einmal in Hochfranken. Er staunt, "was allein auf dem Gebiet der Vokale das Fränkische leistet". Aber auch die Konsonanten - etwa "wenn t oder d als r begegnet" - haben's in sich. Den 2007 verstorbenen Helmbrechtser Alfred Völkl ehrt er, indem er aus dessen Wilhelm-Busch-Übersetzung ins "besonders konservative Fränkisch" des Frankenwaldes zitiert - den der Kölner allerdings fälschlich in den Westen Mittelfrankens verlegt -: Max und Moritz, dej zwee Fregger, / Dess warrn sedda Zungablegger ...

Über den Tellerrand blickt Göttert und streift auch die Dialektvielfalt anderer Sprachen. Die Geschichte der deutschen Sprache und Nation wendet er auf die der Dialekte an, fragt zugleich ohne nostalgische Wehleidigkeit nach ihrer Zukunft und erwähnt auch bedeutsam Paradoxes. So ist vielen Deutschen das Sächsische verhasst - ein "Prügeldialekt"; und doch diente es, in der frühen Neuzeit, dem Hochdeutschen als Vorreiter. Den schönen Slogan "Wir können alles. Außer Hochdeutsch" lehnte Sachsen ab, wahrscheinlich aus Scham; stattdessen sicherten ihn sich die Baden-Württemberger, die seit 1999 offiziell damit werben, stolz darauf, mit ihrer Art zu reden ein "Markenzeichen" zu besitzen.

Der reine Dialekt von vor noch hundert Jahren - der gesprochen wurde, weil die Sprecher "nicht anders konnten" -, der ist verschwunden und kommt, da ist sich der Autor sicher, niemals wieder. Aber der Hochsprache tragen die Dialekte weiter die Vielfalt ihrer Farben bei. Das Prinzip heißt "Mischung". Bei den Registern der Orgel heißt es beinah genauso: Mixtur. Michael Thumser

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Karl-Heinz Göttert: Alles außer Hochdeutsch. Goldmann-Verlag, 384 Seiten, gebunden, 19,99 Euro.