Einer niest. Ein anderer wünscht: "Gesundheit." Artigkeit? Oder ein Fauxpas? Was würde der Freiherr von Knigge dazu sagen? - Nichts.

Die Missverständnisse beginnen mit dem Namen. Der seine ist, als Freiherr von, beinah zur Redensart geworden. Selber aber ließ er das abrückende Adelsprädikat beiseite: Leutselig Adolph Freiherr Knigge nennt er sich auf dem Titelblatt seines Hauptwerks "Über den Umgang mit Menschen". Heuer vor 225 Jahren trat die Urfassung, der verbesserte Auflagen folgten, ans Licht der literarischen Welt.

Die Rezeption seither ist zunächst die eines internationalen Bucherfolgs; dann die des "wohl größten Missverständnisses der Literaturgeschichte", wie der Knigge-Biograf und -Herausgeber Wolfgang Fenner findet. "Knigge" - das ist längst weit weniger der Name eines achtbaren Autors der deutschen Aufklärung als das entstellende Markenzeichen eines ganzen Genres von Benimmwegweisern.

Dabei handelt es sich bei der dreiteiligen Monografie, wie Fenner schreibt, "um eine Lebensphilosophie zum Gebrauch für die unmittelbare gesellschaftliche Praxis. Es geht darin um den Umgang mit Menschen und nicht um den mit Messer und Gabel."

In der Gesellschaftspyramide des ausgehenden 18. Jahrhunderts erstarkte das Bürgertum materiell, verlangte bald, politisch mitzureden, und begann 1789 in Frankreich damit, das System der alten Mächte zu zertrümmern.

Auch rechts des Rheins sprachen viele aufgeklärte Köpfe, wie Knigge, dem epochenwendenden Umsturz das Wort. 1752 kam der Baron bei Hannover zur Welt. Obwohl einer traditionsreichen, wenngleich finanziell ausgebluteten Adelssippe entsprossen, postulierte der Freiherr früh, nichts als ein "freier Herr" zu sein.

Missliebig machte er sich durch seine radikal aufklärerischen Ansichten, die er von 1773 an als Freimaurer, ab 1780 als höchst einflussreicher Ordensbruder der Illuminaten vertrat. Jenen "Erleuchteten" warfen feudale Kreise vor, sie hätten die Französische Revolution eingefädelt. Wirklich für einen "Jakobiner" durfte man Knigge halten, weil er gleiches Recht für alle Menschen und Stände forderte und für eine konstitutionelle Monarchie, mit demokratischen Zügen, anstelle der absoluten warb. Das Privateigentum wollte er beseitigen - und die Religion gleich mit. Paradoxerweise hat ausgerechnet er im Dom zu Bremen als einziger Toter noch heute ein eigenes Grab.

Den Vielschreiber Knigge, dem auch schon mal eine Arbeit missriet, sollte niemand für einen Not- und Minderschreiber halten. Sein (als einzige seiner Schriften noch heute belangvolles) Meisterwerk "Über den Umgang mit Menschen" weist ihn geschmeidig als einleuchtenden, ungemein strukturierten Denker und Sachwalter eines luziden Stils aus. "Irre ich nicht, so ist der Gedanke, in einem eignen Werke Vorschriften für den Umgang mit allen Klassen von Menschen zu geben, noch neu." Heutigen Soziologen hinterließ er mit seiner Pioniertat ein aufschlussreiches historisches Quellenwerk; zudem nichts Geringeres als ein Musterstück populärer Wissenschaft. Darin vereint sich die unverhohlen pädagogische Haltung eines bewusstseinsbildenden Volkserziehers mit dem empiristischen Glauben an eine objektive, vorurteilslose Gelehrsamkeit auf der Grundlage akribisch gesammelter Beobachtungen - Knigge wurde aus Erfahrung klug.

Das Verlangen nach enzyklopädischer Vollständigkeit und wohlgeordneter Weitergabe von Erkenntnis vereint sich mit der Überzeugung, die Menschheit könne durch eigenverantwortlichen Gebrauch der Vernunft eine bessere Welt schaffen. Und es tritt satirisch ein leiser Beiklang von Ironie durchaus willkommen hinzu. Denn "alle Menschen wollen amüsiert sein".

In den gesellschaftlichen Verkehr zwischen unten und oben trachtete Knigge eine ideelle horizontale Ebene einzuziehen: Seine Empfehlungen, von denen das Gros kaum an Geltung verloren hat, zielen auf die Zusammengehörigkeit einander beigeordneter Nebenmenschen ab, auf einen Austausch - neudeutsch - "auf Augenhöhe". Als Pragmatiker durfte Knigge die Schranken zwischen den Klassen nicht ignorieren. Doch er versuchte, zwischen der Würde und Selbstachtung des Einzelnen hier und der Standesehre jeder Schicht dort zu vermitteln, mit dem Vorsatz, dem Bürgertum dabei dienlich zu sein, sich selbstbewusst, zugleich moralisch unantastbar aufzustellen. Vom Alltag, nicht vom Hoftag ging er aus, von Fehlern, die leicht jeder begeht. Schon das Inhaltsverzeichnis in seiner instruktiven Ausführlichkeit formuliert Lebensregeln, als gälte es Gebote und Spruchweisheiten der Bibel zu profanieren: "Jeder Mensch muss sich in der Welt selbst geltend machen." - "Sei, was du bist, immer und ganz." - "Gute Wahl der Gatten ist das sicherste Mittel zu künftigem Eheglücke, und das Gegenteil hat traurige Folgen" ...

Dass Knigges Fahrplan mitmenschlicher Anständigkeit zur Anstandsfibel verkam, ist dem Berliner Prediger F. P. Wilmsen zuzuschreiben: Das Original erweiterte er um einen vierten Teil zum Thema "Etikette". In den drei Teilen, die Knigge selbst verfasste, schreitet er vom Eigenen zum Fremden, von innen nach außen voran.

Der erste, allgemeine Abschnitt berät nicht zuletzt über den Umgang des Menschen "mit sich selbst". Vornehmlich auf Familie und Bekanntenkreis, auf Paarbildung und Partnerschaft weitet der Autor den zweiten Teil aus; bevor er im dritten den "Großen dieser Erde", Prominenten und Respektspersonen, Künstlern und Gelehrten näher tritt.

Auch mit Fürsten lernte der zeitgenössische Leser umzugehen. Häufiger allerdings wird er sich in puncto Frauen haben beraten lassen, wobei der Verfasser zu Mut, Tatkraft und Rückgrat rät. Denn selbst unter "weichgeschaffenen Damen", so mahnt er, sei "eine Art Widerwillen gegen äußerst schwächliche, gebrechliche Männer" unverkennbar.

Bis in die Rand- und Dunkelfelder der Gesellschaft reicht der Blick des "Erleuchteten", der ausdrücklich vor den Machenschaften von "Geistersehern, Goldmachern und anderen mystischen Betrügern" warnend den Finger erhebt; weiß er doch, "dass in den Zeiten der größten Aufklärung ein blinder Glaube an Ammenmärchen grade am stärksten einreißt". Nicht weniger verhöhnen Betrunkene die Vernunft; dennoch, räumt der Autor ein, "bleibt es unangenehm", in ihrer Gesellschaft "der einzig ganz Kaltblütige zu sein", weswegen er empfiehlt, "ein wenig mitzuzechen, um sich denselben Schwung zu geben". Am unsinnigsten berauscht kommen ihm die Verliebten vor. Wie also mit ihnen umgehen? "Vernünftigerweise gar nicht."

Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu - jener "goldenen Regel", auf der das christliche Liebesgebot zur Hälfte beruht, verpflichtete er sich, indem er es umkehrte: "Willst du im Umgange mit dir Trost, Glück und Ruhe finden, so musst du ebenso vorsichtig, redlich, fein und gerecht mit dir selber umgehen als mit anderen." Als "kleiner Zirkel alter, guter Freunde", in dem er für sich sein Behagen fand, waren ihm die Bücher seiner häuslichen Bibliothek verlässlich. "Immer mit neuem Vergnügen lasse ich sie schriftlich mit mir reden." Aus immerhin einem Buch redet der freie Herr Knigge bis heute so geistreich wie ergötzlich.

Das größte Missverständnis der Literaturgeschichte.

Wolfgang Fenner, Biograf


Es geht um den Umgang mit Menschen und nicht um den mit Messer und Gabel.

Wolfgang Fenner


Jeder Mensch muss sich in der Welt selbst geltend machen.

Adolph Freiherr Knigge


Ein kleiner Zirkel alter, guter Freunde.

Knigge über seine Bibliothek


Ein Name wird zum Markennamen

LEBENSSTATIONEN

Adolph Freiherr Knigge, geboren am 16. Oktober 1752 auf Schloss Bredenbeck bei Hannover. Unterricht durch Privatlehrer. In der Jugend verwaist. Jurastudium in Göttingen. 1772 Hofjunker und Assessor in Kassel. Danach Verwaltung seiner hochverschuldeten Güter. 1773 Freimaurer in Kassel. 1777 durch Goethes Vermittlung weimarerischer Kammerherr erst in Hanau, dann in Frankfurt/Main. 1780 bis 1784 Illuminat. Ab 1783 freier Schriftsteller, erst in Heidelberg, dann in Hannover. Seit etwa 1790 kränkelnd. 1791 Oberhauptmann in Bremen und Leiter ("Scholarch") der dortigen Domschule. Hier am 6. Mai 1796 gestorben und bestattet.

DAS BUCH

. . . ist im Handel in etlichen Ausgaben erhältlich, so gebunden im Anaconda-Verlag (4,95 Euro), im Nicol-Verlag (6,95 Euro) und im Insel-Verlag (9,90 Euro). Ein Konzentrat des Werks, dazu einen Überblick über die Biografie des Autors bietet "Knigge für jedermann" (herausgegeben von Jörg-Dieter Kogel, Insel-Taschenbuch, 7,50 Euro). Eine weitere Auswahl - "Der kleine Knigge" - erschien bei Reclam (herausgegeben von Karl H. Göttert, 7,95 Euro). Kostenlose Kindle-Versionen als E-Book gibt es bei Amazon Media (ASIN: B00ANU9NRI und B003VRZRW0).

"DAS ORIGINAL"

"Warum einen anderen, wenn es das Original gibt?", fragt im Internet selbstbewusst einer, "der es wirklich weiß", ein "echter Knigge: Moritz Freiherr Knigge". Als Nachfahre des Schriftstellers wuchs er an dessen Geburtsort, auf Gut Bredenbeck, auf. Heute arbeitet und publiziert er als Berater für Umgangsformen und einer der Gründer des "Deutschen Knigge-Rats". "Selbstbewussten Menschen mit guten Manieren öffnen sich Türen, die ungehobelten Zeitgenossen für immer verschlossen bleiben", heißt es in der Firmenwerbung. "Jeder Ihrer Mitarbeiter ist ein Repräsentant Ihres Unternehmens, sowohl nach innen als auch nach außen. Jeder dieser Mitarbeiter kann Türen öffnen. Für alle, die auf der Suche nach mehr Souveränität und Sicherheit sind, bieten wir mit dem Knigge-Salon ein Business-Etikette-Seminar, das sich unterscheidet."

GANZ KOSCHER

Wie verhalte ich mich, wenn ich am Arbeitsplatz, bei einer Party oder im Tennisclub einen Juden kennenlerne? In einer solchen - gerade für Deutsche nicht ganz unbelasteten - Situation hilft Michael Wuliger mit dem "Koscheren Knigge" weiter (Fischer-Taschenbuch, 8 Euro). "Höchst vergnüglich räumt er mit allen möglichen Klischees und Verkrampfungen auf und gibt so witzige wie praktische Handreichungen zum Umgang mit jüdischen Mitbürgern in allen Lebensbereichen. Michael Jonathan Wuliger lebt in Berlin als Feuilletonredakteur der Jüdischen Allgemeinen. Er geht so gut wie nie in die Synagoge, isst gern Serrano-Schinken und hört lieber Georges Brassens als Giora Feidman." (Aus der Verlagswerbung)