Groß ist es: berühmt, bewundernswert, singulär. Viel ist es nicht. Bequem findet das gesamte literarische Schaffen des Dichters in nur einem Buch Platz, und das erreicht erst dann einen präsentablen Umfang, wenn man darin neben den drei Dramen, der einzigen Erzählung und dem viel zitierten Revolutionspamphlet auch die Zürcher Probevorlesung "Über Schädelnerven", die erhaltenen Briefe von seiner Hand und seine "Schriften aus der Gymnasialzeit" aufnimmt. Alles zusammen füllt - unter Einschluss von Bruchstücken, Entwürfen, Erstfassungen - knapp 300 Druckseiten.

Gefunden, nicht erfunden

Aber auch ein Regalbrett lässt sich mit Georg Büchners Gesammelten Werken füllen. Auf nicht weniger als siebzehn Bände legten die Herausgeber die historisch-kritische "Marburger Ausgabe" an, die seit dem Jahr 2000 in der hessischen Universitätsstadt entsteht und im kommenden Frühjahr fertig kommentiert vorliegen soll. "Nichts ist erfunden, alles ist gefunden", lautet das Leitmotiv, dem die dortige "Forschungsstelle Georg Büchner" unter Burghard Dedner folgt, wenn sie jede Zeile des Dichters, Revolutionärs und Naturwissenschaftlers durchbuchstabiert. "Dass man ein Gesamtwerk so auseinandernimmt, wie wir es hier machen, das ist weltweit wohl einzigartig", verkündet der Professor stolz, räumt aber auch ein, dass sich dergleichen nur mit einem OEuvre von so geringem Umfang anstellen lasse.

Unterm Mikroskop

Die Mikroskopierarbeit fördert fortwährend Neuentdeckungen zutage, nicht nur, aber auch nicht zuletzt im Revolutionsdrama "Dantons Tod": Quellenzitate, die Büchner wortwörtlich übersetzt oder abgewandelt in seine Texte übertrug, die Spuren verwischend, ohne die Herkunft anzugeben. Was bei akademisch arbeitenden Politikern als Plagiat gilt und zum Titel-, wenn nicht gar Amtsverlust führt, das sehen die Germanisten dem Poeten gerne nach: Ihm legen sie seine Übernahmepraxis nicht als geistigen Diebstahl aus; sie dient der Authentizität.

Die aktuellen Bemühungen um Büchners Werk belegen, dass an ihn nicht erst erinnert werden muss. Die Bühnen spielen, Schulklassen lesen seine Stücke. Doch freilich werfen besondere Jahreszahlen auch auf ihn, trotz seiner Dauerpräsenz, ein gebündeltes Scheinwerferlicht. Am morgigen Sonntag vor 175 Jahren starb er, entkräftet, in Zürich am Typhus; nur 23 Jahre zählte er da und war, wie sein jugendlicher Lustspielheld Leonce, der müßiggängerische Prinz, schon ziemlich "alt unter seinen blonden Locken". Im kommenden Jahr wird sich zum 200. Mal der Tag seiner Geburt in Goddelau jähren; dort kam er am 17. Oktober 1813 zur Welt, in Hessen, wo von 1830 an Seine Königliche Hoheit Ludwig II., der hoch verschuldete, gleichwohl gewissenlos weiter prassende Großherzog von Hessen und bei Rhein, unselig regierte.

Wie ein Kranker

Der Vater, ein freiheitlich gesinnter Arzt, nahm den Knaben Georg zu Leichenöffnungen und zu Visiten bei wohlhabenderen wie bei mittellosen Kranken mit. Dann studierte der Filius, aus Neigung, selbst Medizin; mit einer Untersuchung über das Nervensystem der Flussbarbe errang er den Doktorgrad und eine Privatdozentur für vergleichende Anatomie in Zürich.

Sehr erfolgreich verteidigte er in drei Vorträgen seine Dissertation; Freude hatte er, wenn er auch mit zunftgemäßer Sorgfalt zu Werke ging, nicht an ihr: "Ich war wie ein Kranker, der eine ekelhafte Arznei so schnell, als möglich mit einem Schluck nimmt, ich konnte nichts weiter, als mir die fatale Arbeit vom Hals schaffen. Es ist mir unendlich wohl, seit ich das Ding aus dem Haus habe." Denn zur selben Zeit wie an der Doktorschrift formulierte er am "Woyzeck", der Fragment gebliebenen ersten Proletarier-Tragödie der deutschen Literatur, und am absurden Lustspiel "Leonce und Lena", in dem ein Zwergstaat-Potentat sich einen Knopf ins Taschentuch knotet, um nicht zu vergessen, sich an sein Volk zu erinnern. "Ich sitze am Tage mit dem Skalpell und die Nacht mit den Büchern": So fasste der Dichter im Brief an die Verlobte Wilhelmine Jaeglé sein Pensum zusammen. Doppelbegabung und Doppelexistenz strapazierten ihn arg.

Wie in der Naturwissenschaft wurde bei seiner poetischen und kritischen Beschreibung der Welt das scharfe Messer des Pathologen sein Instrument. Was er bei der Analyse der sozialen Ungleichheit in seiner Zeit akribisch ermittelte, gab seine Prosa mit schneidender Eindringlichkeit preis. In der verblüffend modernen, bestürzend schmerzlichen Erzählung "Lenz" lässt er den - in Schizophrenie zugrunde gehenden - Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz die Devise dafür ausgeben: "Man muss die Menschheit lieben, es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein."

1834, in den 1500 insgeheim gedruckten Exemplaren seines "Hessischen Landboten", empfahl Büchner: "Geht einmal nach Darmstadt. Seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euren hungernden Weibern und Kindern, dass ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei." An Kleinbürger und arme Landleute richtete sich die republikanische Kampfschrift,
die Büchner gemeinsam mit dem älteren und gemäßigteren Pastor Friedrich Ludwig Weidig herausgab. Darum näherte sich das Manifest sprachlich einem Prophetenton an, wie er durch die Lutherbibel allen Volksschichten verständlich war. Bei vordergründiger Propaganda beließ es Büchner gleichwohl nicht: Seine Anklagen gegen die Herrschenden, vor denen "das Volk wie Dünger auf dem Acker liegt", untermauerte er unwiderleglich mit statistischen Fakten und Zahlen.

Wäre Georg Büchner ein Zeitgenosse der 1970er-Jahre gewesen: Hätte er sich den Terroristen der RAF angeschlossen? Per Steckbrief ("Besondere Kennzeichen: Starke Kurzsichtigkeit") suchte ihn 1835 der großherzogliche Staatsschutz wegen "Teilnahme an staatsverräterischen Handlungen". Sein Werdegang ersparte Büchner, der erst nach Strassburg, dann in die Schweiz emigrierte, Blutschuld und Brandstifterei.

Im Kerker geboren

Immerhin aber war besagtes Jahr 1834 das Jahr, in dem er als lerneifriger Gießener Student in Darmstadt die erste Sektion der geheimen "Gesellschaft für Menschenrechte" gegründet hatte. Aus Frankreich kamen die Ideen, an denen sich die Mitglieder, Verfolgung und Misshandlung, Kerkerhaft und gar den Tod in Kauf nehmend, dauerhaft entzündeten: das freiheitliche, egalitäre, brüderliche Gedankengut der Revolution von 1789, die Gesellschaftsutopien und -entwürfe der Frühsozialisten.

Als Aufklärer traten die hessischen Menschenrechtler auf; sinnlos indes schien ihnen, dabei allein auf die Überzeugungskraft argumentierender Worte zu setzen. "Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt", postulierte Büchner bündig in einem Brief an die Familie. "Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken." Die "ewige, rohe Gewalt" der herrschenden Gesetze mache die "Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer verdorbenen Minderzahl zu befriedigen". Als Gegengift tauglich schien allein der Kraftakt - Revolution: "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!"

Ans Blut gewöhnt

Das Wesen des Umsturzes hatte Büchner, sein "Auge ans Blut gewöhnend", am französischen Beispiel studiert, ganz "zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel." Für die Art und Weise, wie er aus dem "Puppenspiel" ein Theaterspiel, aus den Tatsachen und Verlautbarungen der Französischen Revolution das Meisterwerk über "Dantons Tod" collagierend, kompilierend herausarbeitete - dafür gibt es in der "Lenz"-Erzählung ein poetisches Programm; mit Kategorien wie poetischer "Schönheit" oder "hässlichem" Naturalismus, Originalität oder Plagiat macht es ein Ende: "Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch erträglicher als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen. Ich verlange in Allem - Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut."


Doppelexistenz: Georg Büchner Archiv


Ein Buch für fünf Büchners

Neben dem Dichter Georg Büchner - unter dessen Namen seit 1951 alljährlich die bedeutendste Auszeichnung für deutsche Literatur verliehen wird - brachte die hessische Familie eine erstaunliche Reihe weiterer zukunftsweisender und selbstbewusster Mitglieder hervor. "Unruhige Neugier" nennt der Societas-Verlag den Hauptcharakterzug des Clans, dessen Facettenvielfalt Heiner Boehncke, Peter Brunner und Hans Sarkowicz in dem Buch "Die Büchners oder Der Wunsch, die Welt zu verändern" dokumentieren (168 Seiten, gebunden, 24,90 Euro). Luise Büchner engagierte sich als Frauenrechtlerin, gründete zusammen mit der Großherzogin Alice von Hessen im Jahr 1867 den Alice-Frauenverein in Darmstadt und veröffentlichte Bücher über den Bildungs- und Berufsanspruch der Frauen. Ihrem Bruder Wilhelm Büchner gelang die vereinfachte Herstellung der Farbe Ultramarin; er gründete 1842 die Ultramarin-Fabrik in Darmstadt. Alexander Büchner half entscheidend, die Vergleichende Literaturwissenschaft zu begründen. Ludwig Büchner, der sich entschieden für moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse einsetzte, schrieb mit "Kraft und Stoff" den ersten Sachbuch-Bestseller seiner Zeit. agq