Ist Amerika „ein Land der Mädchen“? Oder, genauer gefragt: War es das, im Jahr 1884, als Henry James seine Erzählung „Pandora“ veröffentlichte? Fast könnte man’s glauben; stehen doch im kolossalen Romanschaffen des amerikanisch-britischen Großschriftstellers wie in seinen zahllosen Erzählungen oft junge Damen im Mittelpunkt psychologisch fein ausgetüftelter Geschehnisse. Ein Mädchen wie Pandora, die Titelheldin, erscheint in seinem Schaffen mannigfach variiert: Gewinnend hübsch, fällt sie doch nicht durch atemberaubende Schönheit auf; gerade erst erwachsen geworden, steigert sie ihre Unternehmungslust bis zur Kühnheit und strebt mit lächelndem Pragmatismus nach ihrem Ziel, in der (Männer-) Welt hochzukommen.
Dass sie das Ziel erreicht – eine lukrative Partie zu machen und dabei ihre Selbstbestimmung zu behaupten –, darf vermuten, wer die Novelle in einem schön ausgestatteten Sammelband aus dem Haus Mare liest. Er gehört zu den Editionen, mit denen deutsche Verlage den 175. Geburtstag des international maßgeblichen Erzählers am Sonntag feiern. Mit viel Gespür für die Delikatesse wie den – gelegentlich verkappten – Tiefgang in der Prosa des Autors hat Mirko Bonné vier Geschichten aus den Jahren 1864 bis 1884 übertragen und kommentiert.
Sinnvoll „Vier Begegnungen“ heißt der Band. So heißt auch eine der darin enthaltenen Novellen. In ihr lässt ein Ich-Erzähler die wenigen kurzen Treffen mit einer US-Amerikanerin Revue passieren. Der Aufstieg und der Fall ihres Daseins haben sich ihm dabei vollständig offenbart: Nach den Schönheiten Europas sehnt sie sich, reist wirklich dorthin, gerät gleich im Ankunftshafen an einen Schuft, der zügig ihre Liebe verrät, und verkümmert schließlich, wieder daheim, im eigenen Haus als Dienstbotin einer Parasitin. Erstmals auf Deutsch enthält der Band die „Tragödie eines Irrtums“, das anonyme literarische Debüt des 21-Jährigen: Besagte „Tragödie“ löst eine Dame der besseren Gesellschaft aus, indem sie einen Kleinkriminellen beauftragt, ihren Gatten zu töten.
Vier Mal widmet sich der Schriftsteller beispielhaft dem Leitmotiv seines literarischen Lebens: dem „internationalen Thema“. Vier Mal pendeln Menschen auf Dampfern über die Ander-, Gegen- und Nirgendwelt des Atlantischen Ozeans, um von den USA nach Europa oder von dort nach Amerika zu gelangen. Für den gebürtigen New Yorker James stand fest, dass Frankreich, Italien, England der lebenswertere Teil des Globus seien. Aber seine Figuren sind sich da nicht einig. In den acht Stücken einer fiktiven, wunderbar ironischen Briefserie erweist sich, dass „The Point of View“, der subjektive Blickpunkt, über die Beurteilung des Hüben und Drüben entscheidet: Je nachdem, „Wie man es sieht“, ist entweder Europa oder Nordamerika eine „Hochkultur“ oder eine Weltgegend, die „den Vorzug hat, hassenswert zu sein“.
Dramaturgisch beeindruckend, klarsichtig, sehr unterhaltsam erweist sich Henry James als Meister der kleinen Form – wo er doch vor allem zwanzig teils dickleibige Romane hinterließ. Als vergleichsweise sperrig gelten seine letzten Texte, aus denen „Die Gesandten“ herausragen; den Roman halten viele Experten für ein oder gar das Hauptwerk des schier unerschöpflichen Erzählers. Bei dtv liegt die (2015 bei Hanser erschienene) Neuübersetzung durch Michael Walter nun als Taschenbuch vor, einschüchternd voluminös.
Das „internationale Thema“ in einer weiteren, figuren- und geistreichen Variante aus dem Jahr 1903: Lady Newsome, reiche Matriarchin in einem Kaff in Massachusetts, fürchtet, ihren Sohn Chad ans Pariser Lotterleben zu verlieren. Unstatthaft verzögert er seine Rückkehr. Um ihn heimzuholen, schickt die Witwe ihren Vertrauten und Beinahe-Bräutigam Lambert Strether übers Meer. In Paris aber trifft Strether keinen lüsternen Filou an: Vielmehr tritt ihm Chad als Gentleman der einnehmendsten Sorte entgegen. Den jungen, vollendet kultivierten „Mann von Welt“ vor Augen, durchschaut der Gesandte, seine eigene „Jugend verpasst“ zu haben – und verliert sich seinerseits zusehends an die Reize der glitzernden Metropole und ihrer mondänen Gesellschaft.
Von einer der Damen, denen er reisend begegnet, heißt es, sie strahle „eine vollendete, schlichte Schicklichkeit aus, eine dezent exquisite Eleganz“. Für James Prosastil gilt dasselbe, wie auch für Michael Walters deutsche Fassung. Das macht den Roman zu einer musikalisch-wohllautenden Lektüre; zu einer leichten nicht. Im Nachwort vergleicht Herausgeber Daniel Güske die späte jamessche Erzählkunst mit einer „labyrinthischen Kammer“. Zwar, fast ausschließlich in glänzend geführten – wenn auch stets sich verschleiernden – Dialogen entfaltet sich die schmale Handlung des dicken Buchs; doch beanspruchen die weitschweifigen Analysen emotionaler Regungen die Konzentration auch des erfahrenen, wohlmeinenden Lesers stark.
Großbürgerliche Edelgefühle auf der seelischen Feinwaage: Was die für Probleme hatten, damals …!, mag da heute mancher seufzen. Aber die Lektüre-Fahrt über den Ozean der Zeit zurück in die Belle Époque vergangener Generationen lohnt; einen erheblichen Reiz gerade der kürzeren Texte macht eben ihr Abstand aus. In „Pandora“, zum Beispiel, erwartet den Leser etwas heute Unvorstellbares: ein noch ganz provinzstädtisches Washington, in eine Nacht voll „warmer Totenstille“ gehüllt: „Nirgends sind die Nächte so lautlos.“
  • Vier Begegnungen. Übersetzt und herausgegeben von Mirko Bonné. Mare-Verlag, gebunden im Schuber, 271 Seiten, 28 Euro.
  • Die Gesandten. Herausgegeben von Daniel Göske. Übersetzt von Michael Walter. Deutscher Taschenbuch-Verlag (dtv 14593), Paperback, 697 Seiten, 17,90 Euro.
Henry James

wurde am 15. April 1843 in New York geboren. Dort, aber auch in London, Paris und Genf wuchs er auf. In Harvard studierte er Jura, trat aber bereits 21-jährig als Autor hervor: Von 1864 an veröffentlichte er in Zeitschriften Kritiken und Erzählungen. In Paris unterhielt er enge Bekanntschaft mit internationalen Berühmtheiten wie Gustave Flaubert und Iwan Turgenjew. Seit 1876 lebte er in London und auf einem Landsitz in Südengland. Aus Protest gegen die Weigerung der USA, sich nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs militärisch in Europa zu engagieren, nahm er 1915 die britische Staatsbürgerschaft an. Ein Jahr später starb er. Neben seinem monumentalen erzählerischen Werk – zwanzig Romane („Bildnis einer Dame“) und mehr als hundert Erzählungen („Daisy Miller“, „Die Aspern-Papiere“) – umfasst sein Œuvre (erfolglose) Dramen, autobiografische Schriften und bedeutende literaturtheoretische Essays („Die Kunst des Romans"). Durch ausgefeilte psychologische Erzähltechnik mit „personaler" Perspektive und Innerem Monolog wies er dem Roman Wege in die Moderne.