Georg ist neu in der Klasse. Also eigentlich nicht Georg, so wie man es "normal" aussprechen würde, sondern "Dschorsch". Zu schwierig, befinden seine Klassenkameraden - und nennen ihn kurzerhand "Dschoscho". Sitzen darf er neben Adalbert, dem Klassenersten und Liebling der Lehrerin. Und der guckt Dschoscho ganz misstrauisch an, fürchtet er doch bei jedem neuen, er könne ihm seinen Platz als Primus strittig machen. "Bei uns hat Adalbert keine Angst - da weiß er, es kann nichts passieren", kommentiert der kleine Nick.

Er ist der Titelheld der gleichnamigen Sammlung von achtzehn Geschichten, die Autor René Goscinnys (bekannt vor allem als Comicautor von "Asterix" und "Lucky Luke") und Jean-Jacques Sempés zwischen 1960 und 1962 herausgegeben haben. Warum, wird sich jetzt vielleicht der eine oder andere Leser fragen, spricht hier jemand eine Leseempfehlung für ein Buch aus, das über fünfzig Jahre alt ist, obwohl unzählige neuere lesenswerte Kinderbücher auf dem Markt sind - doch die Antwort ist ganz einfach: Weil Goscinny in seinen Geschichten so treffend und unmittelbar die Welt aus Kindersicht zeichnet, dass sie auch nach über fünfzig Jahren noch Groß wie Klein zu Lachtränen hinreißen. Und "weil es den kleinen Nick und seine Freunde in allen Ländern und an allen Schulen gibt. Auch bei uns", wie Hans Georg Lenzen, der die Geschichten 1974 ins Deutsche übertragen hat, anmerkt.

Daher, und um es den deutschen Lesern einfacher zu machen, hat er auch die schwierigen französischen Namen mit übersetzt. Und: Nicht nur bei der Einschätzung der kindlichen Umwelt gehen Autor und Übersetzer gedanklich in die Knie, sondern auch im Satzbau orientieren sie sich an der Grammatik der Kleinen statt am "Kleinen Duden".

"Adalbert, das ist unser Klassenerster und der Liebling von der Lehrerin und wir dürfen ihm nicht so oft eine reinhaun, wie wir wollen, nämlich er hat eine Brille", berichtet Nick etwa von seinem Klassenkameraden Adalbert. Über ihn plaudert der aufgeweckte Ich-Erzähler genauso frei von der Leber weg wie über seine Erlebnisse im Urlaub und in der Schule oder vom jährlich wiederkehrenden Streit der Eltern über das Urlaubsziel unter dem ironischen Titel: "Bei uns entscheidet Papa".

Von tintenblauen Fingern des Schulrats nach einem Missgeschick in der Klasse erzählt Nick ebenso treuherzig, wie er schließlich den Unmut der Lehrerin nicht einordnen kann, nachdem der Schulrat ihr händeschüttelnd sein Beileid zur Arbeit mit einer derartigen Klasse ausgesprochen hat: "Dabei hat sie es doch nur uns zu verdanken, dass der Schulrat ihr gratuliert hat."

Immer mit von der Partie - vor allem bei den Prügeleien, in denen die meisten Episoden gipfeln - sind seine Klassenkameraden: Der gefräßige Otto, der starke Franz und natürlich der reiche Georg, der nicht nur mit einem verzweifelten Fotografen über die technischen Details von dessen Kamera diskutiert. Georg erklärt seinen Kameraden auch, warum sie Dschoscho nicht verstehen: "Das kommt weil er in Originalfassung spricht. Wenn er Untertitel hätte, dann könnten wir ihn verstehen."

Doch Dschoscho lernt schnell die Sprache der Jungs. Schon nach der ersten Pause präsentiert er der Lehrerin stolz seinen
neuen Wortschatz: "Kuatschkoup, Henswoast, drekische Lugner, unessogene Bonde!" Warum sie sich darüber schon wieder echauffiert, das kann Nick nun erst recht nicht verstehen, denn: "Eigentlich braucht sich unsere Lehrerin keine Sorgen zu machen, nämlich die Eltern von Dschoscho werden bald merken, dass er schon am ersten Tag fast alles gelernt hat, was man im täglichen Leben braucht."

Christine Wild

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René Goscinny (Autor)/ Jean-Jacques Sempé (Illustrationen): Der kleine Nick. 8. Auflage (April 2006), Diogenes. Taschenbuch, 176 Seiten, 8,90 Euro.

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