Bamberg – Sie wäre auch weiterhin ein unbekanntes Gesicht geblieben, hätte sich nicht Martin Walser ihrer angenommen: Ulrike von Levetzow. Sie war die junge Frau, in die sich der 74-jährige Johann Wolfgang von Goethe während seines Aufenthaltes 1823 in Marienbad verliebte und der er, wie auch seiner Liebe zu ihr, in der „Marienbader Elegie“ ein literarisches Denkmal setzte. Diese Frau war es auch, die den Anlass für Martin Walser gab, seinen jüngsten Roman „Ein liebender Mann“ zu schreiben. Es sei eine „Einladung“ für ihn gewesen, erklärt der Schriftsteller im Rahmen einer Lesung in der Aula der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, über diese unbekannte, von der Literaturwissenschaft ignorierte Person eine Geschichte zu schreiben. Und so erhält sie ein Gesicht, einen Körper, eine Stimme und eine Persönlichkeit, die dem über 55 Jahre älteren Goethe den Kopf verdreht.

Nicht zum ersten Mal thematisiert Martin Walser die Liebe zwischen einem älteren Mann und einer wesentlich jüngeren Frau. Doch der grundlegende Unterschied seines neuen Werkes zu den vorangegangenen Texten liegt darin, dass Goethe der „liebende Mann“, die Hauptfigur des Romans ist. Und Goethe ist noch mehr, er ist ein „leidender“, ein „liebeskranker“ Mann, erklärt Walser in der voll besetzten Aula. In einer der von ihm ausgewählten Passagen beschreibt Walser die Eifersucht, die Zweifel und die Not, die Goethe durchleidet. Seine leidenschaftlichen Reaktionen unterscheiden sich in keiner Weise von den Emotionen eines jungen Menschen: „Leiden ist schmutzig, macht schmutzig“. Er sieht im Tod die einzige Reinigung. Die Assoziation mit Werther ist gewollt und fällt nicht schwer. Dass es zum Selbstmord nicht kommt, liegt an der Person Goethes, die im Schreiben ein Heilmittel sieht.

Die Darstellung des 74-jährigen Goethe sei ihm leicht gefallen, sagt Walser – der 1927 in Wasserburg geboren wurde –, und die Lesung sowie das Gespräch danach machen dies deutlich. „Die Nähe zu ihm ist da.“ So konnte Walser ohne Bedenken zahlreiche Briefe von Goethe an Ulrike selber schreiben. Doch der Schriftsteller von heute kann als auktorialer Erzähler nicht sagen: „Ich bin Goethe, und ich bin Ulrike.“ Die Nähe zum liebenden Dichter entstand aufgrund seiner Leidensfähigkeit, erläutert Walser. Denn „Leiden hat weder eine Geschlechtszugehörigkeit noch eine Jahreszahl“, so der Georg-Büchner-Preisträger.

Walser hat, wie er sagt, in seinem jüngsten Roman Ulrike von Levetzow als eine Frau des 19. Jahrhunderts beschrieben, während Goethe noch ein Mann des Rokoko ist. In seinen „Wanderjahren“, die er Ulrike zur Lektüre überreicht, zeigt er sich fasziniert von der handwerklichen Kunst. Ulrike hingegen will Maschinen entwickeln, die die Arbeit der Menschen übernehmen. Für sie habe Goethe seine „Wanderjahre-Ästhetik“ aufgegeben und sei „in das 19. Jahrhundert desertiert“. Walsers Fazit: „Das ist Liebe.“