Es ging nicht recht. Zwar, Feuer und Flamme war Bram Stoker, als ihm der ungarische Gelehrte Arminius Vambéry die rumänischen Sagen um blutsaugende "Nachzehrer" und Untote auslegte und ihn dabei auf den Fürsten Vlad III. Draculea verwies, jenen walachischen Tyrannen des 15. Jahrhunderts, der seine Feinde scharenweise zum Zweck besonders langsamen und qualvollen Sterbens rektal auf Holzpfähle zu spießen liebte. Hier lag der Stoff für einen einzigartigen Schauerroman, das stand für Stoker fest.

Aber es wollte nicht vorangehen. Andere schriftstellerische Projekte verlangten seine Aufmerksamkeit; vor allem hielt die Organisationsarbeit ihn ab, die Stoker für seinen verehrten Brotherrn Henry Irving, Englands bedeutendsten Schauspieler, zu erledigen hatte. Zum Schreiben blieben die Urlaubswochen und die Nächte. Sechs Jahre waren nötig, bis "Dracula" fertig war - ein Klassiker, was da noch niemand ahnte. 115 Jahre später legt der Steidl-Verlag jetzt eine bemerkenswerte deutsche Neuausgabe des Romans vor: ein schauriges, ein schönes Buch.

Nicht auf eigenen Füßen

Es ging nicht: Er ging nicht. Warum auch immer: Der Knabe Bram, 1847 als Abraham nahe der irischen Metropole Dublin geboren, konnte nicht laufen, noch nicht einmal auf eigenen Füßen stehen. Liegend, sitzend verbrachte er die ersten sieben Lebensjahre. Ratlos rätselten die Ärzte; erst recht, als der Junge sich dann doch erhob - um fortan einen umso athletischeren Bewegungsdrang zu entfalten. Der unfreiwillige Stubenhocker wuchs zum Topsportler des Dubliner Trinity Colleges auf. Später trat er in die städtische Justizverwaltung ein und erntete als Verfasser eines Kompendiums für Schnellrichter Meriten.

Indes lagen die wahren Ziele seines Autoren-Ehrgeizes anderswo. Buchstäblich Blut leckte Stoker an Vampir- und anderen Gruselstoffen. Ein Dutzend Romane, neben etlichen Erzählungen, brachte er heraus; als Nummer fünf, 1897, jenes Hauptbuch, das ihm Weltruhm eintrug, wenn auch erst postum. Heute vor hundert Jahren starb er in London, nicht in armen, aber dürftigen Verhältnissen, an "Überarbeitung", wie es hieß, an Syphilis, wie einige behaupteten, wahrscheinlich an einem Herzinfarkt.

Gelungen war ihm, was kaum einem glückt: Als Einzelner hatte er ein literarisches Genre begründet - oder zumindest neu erfunden und vollendet. Natürlich hatte auch seine spitzzahnige Vampirgeschichte Vorläufer und -bilder: den 1816 entstandenen "Vampyr" des englischen Arztes John Polidori; die Erzählung "Carmilla", worin der irische Landsmann Joseph Sheridan Le Fanu 1872 von einer lesbischen Blutsaugerin berichtete; nicht zuletzt Guy de Maupassants tiefenpsychologische Horror-Novelle "Der Horla" von 1887. Doch Stokers Verortung seines Grafen Dracula zwischen Ost und West, grauer Vorzeit und viktorianischer Zeitgenossenschaft gehört ganz ihm; auch die ungekannte, Faszination und Abscheu gleichermaßen erregende Charakterisierung des Ungeheuers: In dem verwandlungsfähigen Unhold verbindet sich aristokratische Eleganz mit niedersten Beweggründen. Ein Dämon, zweifellos. Dämonie ist das Böse mit Format.

"Menschen mit schwachen Nerven", riet die Zeitung Daily Mail 1897, sollten die Lektüre "auf die Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang beschränken". Zwischen Auf- und Untergang bewegt sich die Handlung auch: Im positivistisch denkenden, materialistisch handelnden England des 19. Jahrhunderts, in einer zukunfts- und fortschrittsgläubigen Sphäre der Technik und exakten Wissenschaft treibt sich verheerend eine Kreatur aus mythischer Welt und Zeit herum, die das moderne Leben in eine finstere Ödnis für Untote umzuwandeln trachtet. Im Nachwort der deutschen Neuausgabe benennt Übersetzer und Herausgeber Andreas Nohl mancherlei "Oppositionen": Wirklichkeit versus Illusion, Bewusstes versus Unbewusstes ... - Zivilisation versus Barbarei.

Dem Trivialautor Stoker war mit "Dracula" ein "komplexes" Stück Hochliteratur unterlaufen, dazu steht Nohl: ein fast moderner Roman, vom Autor (übrigens hierin der 37 Jahre vorher erschienenen "Frau in Weiß" von Wilkie Collins ähnlich) nicht allwissend erzählt, sondern aus Aufzeichnungen und Briefen, aus Logbucheintrag, Expertise, Zeitungsbericht montiert. So wechseln fortwährend Perspektive und Beleuchtung, und das berichtete Unglaubliche erhält den Anschein direkt erlebter Authentizität. Bei aller Nähe zum Original achtete der Übersetzer darauf, den Figuren in ihrer jeweiligen Sprache möglichst viel reale Eigenart zu vermitteln und dabei vor allem "die Verschiedenheit des Grafen und des holländischen Arztes van Helsing herauszuarbeiten".

Ein schmaler Grat

Auf dem "schmalen Grat zwischen Faszination und Hochkomik" (Nohl) balanciert Stokers Urtext. Auch so gesehen, kommt an ihn keine Nachahmung und Umformung heran, kein Kinostück, kein Musical. Im Landestheater Coburg gibt es die Geschichte derzeit als Ballett. Tanz der Vampire - so heißt eine "Dracula"-Version Roman Polanskis von 1967, vielleicht die schönste Verfilmung des Stoffs, gleichzeitig seine frechste Parodie.

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Bram Stoker: Dracula. Neu übersetzt von Andreas Nohl. Mit Nachwort und Anmerkungen. Steidl-Verlag, 590 Seiten, gebunden, 28 Euro.

Bram Stoker, Autor von Trivialromanen, dem ein Stück Weltliteratur gelang.


Handlung mit Biss

Auf einem Schloss in Transsylvanien (Siebenbürgen) soll der Londoner Anwaltsgehilfe Harker mit dem Grafen Dracula den Kaufvertrag für ein Haus in London abschließen. Er erkennt, dass es sich bei Dracula um einen uralten Vampir handelt, der sich nachts in eine Fledermaus verwandeln kann. Auf einem leeren Schiff reist der grausige Graf nach England: Mittels seines kussähnlichen Giftbisses will er sich dort ein Volk von Blutsaugern erschaffen. Dabei bedroht er auch die Braut des zurückkehrenden Harker. Der spürt, im Verein mit dem holländischen Experten Professor van Helsing und anderen Freunden, Dracula in seinem Versteck auf und vernichtet ihn auf der Flucht in Transsylvanien.