Meinungen Reifeprüfung

Peter Rauscher
Von Peter Rauscher Quelle: Unbekannt

Typisch deutsch: Wenn heute, mehr als drei Wochen nach der Bundestagswahl, endlich, endlich erstmals offiziell die Chancen für ein Jamaika-Bündnis in Berlin ausgelotet werden, ist die Skepsis mit Händen zu greifen. Das klappt ja doch nicht, heißt es allenthalben in Talkshows und Kommentaren.

 
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Typisch deutsch: Wenn heute, mehr als drei Wochen nach der Bundestagswahl, endlich, endlich erstmals offiziell die Chancen für ein Jamaika-Bündnis in Berlin ausgelotet werden, ist die Skepsis mit Händen zu greifen. Das klappt ja doch nicht, heißt es allenthalben in Talkshows und Kommentaren. Wie soll das gehen mit einer schwächelnden Kanzlerin, wenn die FDP klare Vorfahrt für die Wirtschaft will und die Grünen mit ihrem moralischen Zeigefinger strikt auf Klimaschutz pochen? Und wenn Horst Seehofer ein Jahr vor der Landtagswahl das Wasser bis zum Hals steht und er wegen jedes noch so kleinen Zugeständnisses in der Zuwanderungspolitik fürchten muss, Futter für Putschisten in München zu liefern?

Niemand kennt die Antwort auf die Frage, wie so unterschiedliche Parteien, Interessen und Kulturen zusammenfinden sollen. Sicher ist nur: Die Verhandler von Union, FDP und Grünen können Geschichte schreiben - ein ruhmreiches oder schmähliches Kapitel. Es geht um mehr als das erste Vier-Parteien-Bündnis im Bundestag seit Adenauer und das erste in dieser Konstellation überhaupt. Eine Premiere, ein Experiment, sicher. Aber eines, das gelingen muss. Um der Demokratie willen.

Ernsthafte Alternativen zu Jamaika gibt es nicht. Eine Fortsetzung der großen Koalition aus Union und SPD, die von interessierter Seite immer wieder ins Gespräch gebracht wird, wäre nach der Wahlklatsche eine Brüskierung des Wählerwillens - und eine Bedrohung der Volkspartei SPD, die unter 20 Prozent abstürzen könnte. Ein noch größerer Triumph für die Extremisten von links und rechts wären Neuwahlen, wenn alle Versuche einer Regierungsbildung scheitern sollten. Und eine Minderheitsregierung brächte hohe Instabilität in unsicheren Zeiten. Das will niemand. Wie man es dreht und wendet: Es bleibt nur Jamaika.

So ist der Druck auf die beteiligten Politiker gewaltig. Sie müssen nun zeigen, dass der gern zitierte Leitsatz, wonach jede demokratische Partei prinzipiell mit den jeweils anderen koalitionsfähig sein muss, keine leere Floskel ist, sondern eine demokratische Tugend beschreibt. Dass sie die hohe Kunst beherrschen, harte Gegensätze zu überwinden und für alle Beteiligten tragfähige Kompromisse zu finden. Dass die parlamentarische Demokratie allem haushoch überlegen ist, was Populisten und Extremisten im Schilde führen.

Es ist eine Reifeprüfung der Demokratie: Können die beteiligten Politiker und Parteien aus staatsbürgerlicher Verantwortung über ihre langen Schatten springen, auch wenn sie Nachteile für sich befürchten müssen? Werden sie sich auf ein gemeinsames Leitbild einer bürgerlich-freiheitlichen Gesellschaft einigen können? Und werden die Wähler, die diese Zersplitterung des Parteiensystems gewollt haben, das Ringen um Lösungen und mühsam ausgehandelte Einigungen als Ergebnis harter Arbeit würdigen - oder werden sie Ergebnisse als faule Kompromisse schlechtreden und die demokratischen Parteien dafür verachten - wie in der Weimarer Republik geschehen?

Russland, Türkei, Amerika: In vielen Ländern steckt das Modell der liberalen Demokratie in der Krise, werden Freiheitsrechte angegriffen. Deutschland hat es besser. Der Weg nach Jamaika ist sehr weit und schwierig. Er muss behutsam gegangen werden, aber er muss gegangen werden. Es ist der Königsweg der Demokratie.

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