Münchberg Grenzerfahrungen

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Der junge Zeller Johannes Oberländer half im Flüchtlingslager in Calais. Eigentlich wollte er Urlaub machen. Sieben Wochen später war der Rest der Welt banal.

 
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Zell - Niemals könnte ein Strukturfreak mit Johannes Oberländer Urlaub machen. Der 22-Jährige weiß, was er will. Aber das kann manchmal heißen, dass er sich umherwehen lassen mag, um zu sehen, ob da nicht etwas Interessantes passiert. In Zell, wo er lebt, stieg er aufs Fahrrad, um einen Freund in Stockholm zu besuchen. "Ein paar schöne Tage zwischen Ausbildung und Studium" sollten es werden. Dort eingetroffen, eröffnete der Kumpel, er wolle ins Flüchtlingslager Calais. Man kann sich das - verkürzt - so vorstellen, dass Johannes Oberländer mit den Schultern zuckte, wieder aufs Rad stieg - und eben nach Calais fuhr. "Als ich wieder nach Hause kam, kam mir dort alles so banal vor". Das war sieben Wochen später.

Johannes Oberländer ist Christ, ein überzeugter. Sogar sein Äußeres tendiert zu üblichen Jesus-Darstellungen. "Ich wollte Gott spüren in diesen freien Tagen und mich finden", erzählt der Zeller mit Bart und einem jungenhaften Gesicht. Aber das galt nicht für transzendentale Höhen, sondern für menschliche Tiefen. In einem ausrangierten Gartenhäuschen stand er nun. Mitten in einem Camp, das Medien aus dramaturgischen Gründen gerne zum europäischen Zentrum für Elend, Kriminalität und gestorbene Hoffnung stilisieren. Er gab Tee und Kaffee aus, sprach und betete mit Menschen.

Das ist nicht spektakulär oder besonders aufopfernd. "Es ist elementar, den Flüchtlingen etwas zum Essen und einen trockenen Schlafplatz zu bieten, sicher. Aber niemand bringt ihnen Wertschätzung entgegen und redet einfach mit ihnen", sagt er. Er habe in den sieben Wochen viel Dankbarkeit empfangen, und auch er sei gewachsen. Und zwar unter Umständen, die das schwer nachvollziehen lassen und die voller scheinbarer Widersprüche stecken.

"Es war ruhig dort", sagt er und wartet vielleicht auf Widerspruch. Dann erzählt er von Schlägereien, Morden, dem Feuer. Doch dann erklärt er: "In dem Lager leben bis zu 10 000 Menschen, durchgelaufen ist man in zehn Minuten. Können Sie sich die Enge vorstellen? Das Lager gibt es seit vielen Jahren. Dafür ist es wirklich ruhig und friedlich dort."

Manche Flüchtlinge weinten mit ihm. Einer, als ein Sudanese bei dem Versuch überfuhren wurde, auf einen Laster Richtung England zu springen. "Ich bin kein emotionaler Typ. Ich kann Distanz normalerweise wahren", meint der angehende Chemie-Student. "Aber irgendwann brachen die Dinge zu mir durch." Und er dankt seinem Gott, diese Grenzen erfahren zu haben. Aber über dem Lager sei keineswegs eine unbewegliche dunkle Wolke gehangen. "Wir haben viel gelacht, gespielt und gesungen", erzählt der Zeller. Regelrecht fröhlich sei es manchmal zugegangen. Gewundert habe ihn das nie. Im engen Kontakt mit Menschen zeige sich deren Vielfalt. "Völlig normal" ist es daher für ihn, dass die von fremdenfeindlichen Europäern verhöhnten Flüchtlinge nicht selbst über den Dingen stünden. "Unter Afghanen und Sudanesen gibt es auch Rassisten. Da gab es immer wieder Spannungen. Manchmal sind sie auch aufeinander los", erinnert er sich. Er hängt an, dass die Vernunft in der Regel gewonnen habe. Wenn einer aus der Gemeinschaft zu weit gegangen war, haben ihn die anderen meistens diszipliniert, indem sie ihm mit Ausschluss drohten. "Sie hatten erkannt, dass Auseinandersetzungen allen schaden", sagt Oberländer.

Er sei gewachsen in diesen sieben Wochen. "Jeder Tag war eine Herausforderung. Jedes Gespräch ging tief und war wirklich wichtig." Wenn er in Zell aufwache, wisse er, was kommt. Und die Probleme zu Hause erscheinen ihm beliebig. "Aber ich komme schon wieder rein in den Alltag", sagt er und grinst. Den Small Talk, der ihn frustrierte, hat er auch schon wieder einigermaßen drauf.

In Calais war das anders. Dort ging es um Krieg, verstörte Kinder, tote Freunde, um Gott und um Allah. Er betete für andere, manchmal erst nach langer Überredungskunst. "Aber die meisten Muslime haben dann erkannt, dass mein Gebet mit einer guten Absicht verbunden war, auch wenn ich zu Jesus betete." Das Miteinander sei allen wichtiger gewesen. Das galt auch für die Helfer. Dort waren Alte und Junge, Christen und Atheisten. "Und die meisten Freiwilligen kamen aus Großbritannien", erzählt Oberländer. Also aus jenem Land, das den Flüchtlingen in Calais mit seiner restriktiven Politik das Leben schwer mache.

Johannes Oberländer weiß nicht so recht, auf welche Seite er sich stellen soll. Er versteht die Länder, die Ordnung in ein Chaos bringen wollen, und er versteht jeden Menschen, der aus Elend und Krieg flüchten will. Auch Flüchtlinge verstünden durchaus, die Perspektive zu wechseln - wenn auch vereinzelt in verwundernder Manier. "Wenn ich ein Lkw-Fahrer wäre, und ein Flüchtling würde auf meinen Laster springen, ich würde ihn verprügeln." Das habe ihm ein Afghane offenherzig erzählt.

"Jedenfalls war ich immer froh, wenn es einer geschafft hat, an sein Ziel zu kommen", sagt der junge Zeller. Und ein Bild wird nie aus seiner Erinnerung schwinden: "Wenn an der Grenze ein Stau entstand, schrieen alle ,Chance, Chance, Chance', rannten zum Zaun an der Straße und rissen ihn nieder."

Die meisten Muslime haben erkannt, dass mein Gebet mit einer guten Absicht verbunden war.

Johannes Oberländer, Flüchtlingshelfer

Niemand bringt ihnen Wertschätzung entgegen und redet einfach mit ihnen.

Johannes Oberländer, Flüchtlingshelfer

Das Nadelöhr vor Großbritannien

Schon seit Jahren ist Calais das vorläufige Ziel von Flüchtlingen, die nach Großbritannien gelangen wollen - woran sie auf Betreiben von London gehindert werden. Die Zahl der Menschen, die dort in einem Lager leben, schätzen Regierung und Hilfsorganisationen auf 7000 bis 10 000. Die Flüchtlinge versuchen in Calais auf Lastwagen oder Fähren zu steigen, um nach England übersetzen zu können. Dazu greifen sie auch zu Mitteln, die auf heftigen Protest stoßen. Unter anderem legen sie auf Straßen Baumstämme quer, um die Lkw zu stoppen und so auf sie steigen zu können. Dagegen haben Lkw-Fahrer und Einwohner von Calais wiederholt demonstriert. Andererseits prangern Helfer die Zustände in dem Lager an, das despektierlich "Dschungel" genannt wird. So mangele es bei der Hygiene, auch die Versorgung der Menschen sei unzureichend. Vermehrt komme es wegen der drangvollen Enge zu Ausbrüchen von Gewalt. Die französische Regierung will das Lager schrittweise räumen. Eine radikale Lösung haben die Briten geplant. Sie wollen in der Verlängerung des Zaunes am Eurotunnel eine meterhohe Betonmauer hochziehen, um die Verkehrswege nach außen abzuschotten.

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