Naila "Sehr geehrte Frau Merkel . . ."

Anlaufstellen für Menschen in Armut, wie die Tafel, sind Ausdruck von Elend in einem reichen Land - dagegen wollen Nailaer aufbegehren. Symbolbild Quelle: Unbekannt

Teilnehmer des Nailaer f.i.t.-Projektes verlangen, dass das Sozialsystem Wege aus der Armut weist, statt sie zu zementieren. Die Adressaten suchen sie ganz oben im System.

 
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Naila - In Tagen, in denen diskutiert wird, ob Fußballstars 20 Millionen im Jahr verdienen sollten oder ob nur 15 Millionen gerechtfertigt sind, gibt es anderswo andere Probleme. Etwa, ob sich die alleinerziehende Mutter die Zahnbürste für die Tochter noch leisten kann. Seit sechs Jahren sind solche Schicksale Realität im Nailaer Projekt "Sichtbar, aber nicht stumm". Die Menschen dort haben weder Geld noch Lobby. Jetzt haben sie sich an Kanzlerin Angela Merkel und ihren Herausforderer Martin Schulz gewandt, an die heimischen Kandidaten und Parteispitzen - in Wahlkampfzeiten sind Politiker oft besser zu erreichen.

Tag der Armut

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat 1992 den 17. Oktober zum "Internationalen Tag für die Beseitigung der Armut" erklärt.

An diesem Tag soll

der Kampf der Armen gegen Ausgrenzung gewürdigt werden,

den Menschen, die an Armut leben, Gehör verschafft werden,

bekräftigt werden, dass auch Arme Rechte wie alle Menschen haben müssen.

Am 17. Oktober ist internationaler Tag zur Beseitigung der Armut, am 24. September Bundestagswahl. "Das nehmen wir zum Anlass, auf Menschen aufmerksam zu machen, die nicht mehr aus der Armut herauskommen", sagt Marlies Osenberg, die in Naila das Seniorenbüro leitet und stellvertretende Projektleiterin des "f.i.t.-Projektes" ist. Dazu gehören die evangelische Gemeinde, die Mehrgenerationen-Projektschmiede, die Nailaer Tafel und die evangelische Erwachsenenbildung Hof/Naila. Seit sechs Jahren treffen sich dort Menschen, die frustriert sind. "Jüngere, die alleinerziehend sind oder ältere, die nicht mehr Fuß fassen können", erklärt Osenberg. Jeden Monat treffen sie sich. Zusammen haben sie schon ein Buch geschrieben, in denen sie ihre Lebens- und Leidensgeschichte erzählen. Meist, erklärt Osenberg, vereine diese Menschen ein Aspekt der Armut: Sie kämpfen dagegen an, schaffen es aber nicht. Das liege keineswegs nur an Krankheiten oder mangelnder Qualifikation, sondern oft auch am System - deswegen hat sich die Gruppe an höchstrangige Ansprechpartner gewandt. "Jeden Euro, den du dazuverdienst, ziehen sie dir wieder ab", so fasst Marlies Osenberg das Grundproblem zusammen.

Auf drei Seiten ist in verhaltenem Ton der Unmut vieler herauszulesen. Ein Auszug: "Weil jede finanzielle Verbesserung vom ALG 2/Grundsicherung abgezogen wird, entsteht der Eindruck, es sei so gewollt, dass sie alle arm bleiben." Was sich auf diesen drei Seiten findet, sind Forderungen, die aus persönlichem Elend heraus entstanden sind. "Ich kenne eine Frau, die sieben Kinder großgezogen und dabei immer noch gearbeitet hat. Ihr wurde die bereits gezahlte Mütterrente von der Grundsicherung wieder abgezogen", so wird einer aus der Gruppe zitiert.

Nun haben sich alle zusammengesetzt und zusammengetragen, wo die größten Ungerechtigkeiten im System lauern. So sollen, heißt es in dem Schreiben, die Zuverdienst-Grenzen im Sozialrecht erhöht werden. Was sei frustrierender, als für Bemühungen, aus der Armut herauszukommen, bestraft zu werden? Alleinerziehende müssten besser gestellt sein. Überhaupt Kinder: Wer Kinder erzieht, soll das als Arbeit angerechnet bekommen, wenn es später um die Rente geht. Und langfristig solle sich Berlin darum kümmern, dass die Arbeit auf geringfügiger Basis wieder zur Ausnahme wird. Ferner sollte es das Sozialsystem vorsehen, mehr geförderte Arbeitsplätze zu schaffen. "Arbeitslosigkeit kann krank machen", schreibt die Gruppe, die das Dokument verantwortet.

Bislang hat Osenberg noch nichts aus Berlin gehört. Dass das Papier in einem Vorzimmer endet, weiß auch sie im Grunde. "Uns geht es vor allem um Aufmerksamkeit", sagt sie. Nicht umsonst heißt das Motto des Projektes "Sichtbar, aber auch nicht stumm". Die drei Seiten gingen an die Medien, sie werden in der Kirche verteilt und jeder Multiplikator sei ein Gewinn.

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