Länderspiegel Macht uns Arbeit krank?

Die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen haben sich binnen zehn Jahren verdoppelt. Was sind die Ursachen? Fragen an einen der international renommiertesten Experten, den Depressionsforscher Florian Holsboer.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Herr Professor Holsboer, worunter leiden die meisten psychisch erkrankten Menschen?

In den häufigsten Fällen unter Angststörungen und Depressionen. Bei beiden Krankheiten spielt die Veranlagung, wie Vererbung oder Traumaerfahrung in frühen Lebensabschnitten, eine wichtige Rolle. Daneben sind äußere Einwirkungen wichtig. Das kann der Verlust des Partners, andauernde Überforderung oder auch hohe Stressbelastung sein. Wenn durch ein negatives Ereignis eine depressive Verstimmung eintritt, dann sollte diese nach einer gewissen Zeit wieder abklingen. Geschieht dies nicht, weil der Betroffene eine entsprechende Veranlagung hat, kann eine Depression entstehen. Je nach Diagnose können psychische Erkrankungen Befinden, Verhalten, Emotionalität, Antrieb, Wahrnehmung, Denkvermögen, aber auch körperliche Funktionen wie Schlaf, Sexualität, Appetit, das Herzkreislaufsystem und den Magen-Darm-Trakt beeinträchtigen.

Welche Faktoren lösen im Arbeitsleben psychische Probleme aus?

Eine ständige Dauerbelastung, die man als negativ erlebt, oder auch fehlende Anerkennung für Geleistetes oder Mobbing können Auslöser sein. Aber auch ungünstige Umgebungsbedingungen wie beispielsweise Lärm, Hitze oder fehlendes Tageslicht. In einer gemeinsamen Studie mit der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft konnten wir zeigen, dass vor allem sozialer Stress, etwa Konflikte in Familie und Partnerschaft, aber auch traumatisierende Erlebnisse in Kindheit und Jugend die stärksten Risikofaktoren für Depression und Angsterkrankungen sind. Merkmale der Arbeitstätigkeit scheinen dagegen eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Aber nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums sollen sich in den vergangenen zehn Jahren die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen verdoppelt haben. Warum dieser Anstieg?

Zunächst muss man sagen, dass insgesamt die Arbeitsunfähigkeitstage in den letzten Jahren vergleichsweise stabil sind und die Zahl der gesundheitsbedingten Frühverrentungen sogar deutlich abgenommen hat. Psychische Erkrankungen sind jedoch in der Tat die Ausnahme, hier nehmen sowohl die Fallzahlen und Fehltage als auch die Frühverrentung zu. Die Zunahme der gemeldeten Krankheitsfälle aufgrund psychischer Störungen ist daher vor allem auf die erfolgreiche Entstigmatisierung zurückzuführen. Wenn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens preisgeben, unter Depressionen zu leiden, dann hilft das vielen Patienten, die Scheu zu überwinden, zu ihrer Erkrankung zu stehen und zum Arzt zu gehen.

Und welchen Behandlungsweg sollten die Betroffenen einschlagen? Lösen denn lange Krankschreibungen das Problem?

Wir gehen davon aus, dass nur etwa 30 Prozent adäquat behandelt werden. Bei mittelschweren und schweren Depressionen und Angststörungen wird man spezielle Medikamente verschreiben und eine begleitende Psychotherapie empfehlen. In sehr schweren Fällen ist sogar eine stationäre Behandlung notwendig. In jedem Fall muss aber eine begleitende Labordiagnostik durchgeführt werden, damit der Patient die für ihn individuell optimale Therapie erhält. Es gibt Fälle, in denen nach überstandener Krankheitsepisode eine Nachbehandlung in einer geeigneten Fachklinik als Erholung von der Depression sinnvoll ist.

Die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft meint, dass Arbeit an sich kein Risikofaktor sei. Sie beruft sich dabei auf eine maßgeblich von Ihnen erstellte Langzeitstudie aus dem Jahr 2015, herausgegeben vom Max-Planck-Institut.

Das stimmt. Es kommt in erster Linie darauf an, welche Arbeitsbedingungen bestehen: Hohe quantitative Arbeitsanforderungen, Konflikte zwischen beruflichem und Privatleben und Mobbing sind negative Belastungen. Dagegen sind gute Entwicklungsmöglichkeiten, Gemeinschaftsgefühl und soziale Sicherheit positive Faktoren, die mit geringen Arbeitsunfähigkeitstagen wegen psychischer Erkrankungen in Zusammenhang stehen. Diese Erkenntnisse haben auch vier Jahre nach ihrer Veröffentlichung Bestand.

Der Druck auf den Einzelnen im Arbeitsleben nimmt also nicht zu?

Der zunehmende Ruf nach Flexibilitätsbereitschaft sowie die Digitalisierung werden oft als Belastung genannt. Ich verweise darauf, dass es in der Geschichte der Arbeitswelt solche Anpassungen seit jeher gegeben hat. Neu sind hingegen die kurzen Jahres- und Lebensarbeitszeiten. Das Jahr hat 8760 Stunden, ein Arbeitsjahr 1650 Stunden, da bleiben zum Ausruhen und für Freizeit noch 7110 Stunden. Das gab es früher nicht. Zu überlegen ist, ob wir nicht besser längere Arbeitszeiten haben sollten, in die dann aber nicht ein Mehr an Arbeit hineingepackt wird. So hätten wir für die einzelnen Arbeitsvorgänge mehr Zeit und weniger Druck.

Laut Ihrer Studie würden vor allem personenbezogene und biografische Belastungsfaktoren das Erkrankungsrisiko erhöhen. Was meinen Sie damit?

Jeder trägt in sich eine individuelle Veranlagung. Diese bestimmt, ob wir gegenüber einer Stressbelastung widerstandsfähig, also resilient sind, oder krank werden, weil wir vulnerabel sind. Das ist wie mit dem Immunsystem: Zwei Menschen sind einem Krankheitserreger ausgesetzt, der eine ist resilient und bleibt gesund, der andere vulnerabel und bekommt die Infektionskrankheit.

Und die Anfälligkeit steigt nicht, obwohl die ständige Erreichbarkeit geradezu ein Markenzeichen der modernen, digitalisierten Arbeitswelt geworden ist?

Die Dauererreichbarkeit als krankmachender Stressfaktor wird überschätzt. Niemand wird bestraft, wenn er mal sein Handy ausschaltet. Im Gegenteil: "Digital Detox", also die "digitale Entgiftung" ist ein neuer Trend, der hilft, unser Handy-Suchtverhalten zu korrigieren. Dies umzusetzen ist ein erster wichtiger Schritt in Richtung Selbstschutz.

Dennoch gibt es den Ruf nach neuen Arbeitsschutzregeln.

Davon haben wir genügend. Und wir sollten sie umsetzen, bevor sich die Politiker neue ausdenken.

Zur Person

Professor Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Florian Holsboer zählt international zu den renommiertesten Depressionsforschern. Er ist bekannt für seine Entdeckungen über den Zusammenhang zwischen Stress, Depression, Angst und Schlafstörungen, die labordiagnostische Charakterisierung dieser Erkrankungen und deren bestmögliche Behandlung. Er wurde 1987 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie nach Freiburg und 1989 zum Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München berufen. 2014 verließ er das Max-Planck-Institut und übernahm den Vorsitz der Geschäftsführung des Pharmaunternehmens HMNC Brain Health. Florian Holsboer ist Autor und Koautor von über 1000 wissenschaftlichen Publikationen und zählt weltweit zu den meistzitierten Neurowissenschaftlern. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er zahlreiche internationale Preise, unter anderem den Gay-Lussac-Humboldt-Preis (Frankreich), den Luis-Federico-Leloir-Preis (Argentinien) oder den Freedom-to-Discover-Award (USA). Florian Holsboer ist Ehrendoktor der Universitäten Leiden (Holland) und Zürich (Schweiz).

Viele Arbeitnehmer sind über der Belastungsgrenze

Die Zahl der psychischen Leiden bleibt hoch. Doch dafür alleine die Arbeitswelt verantwortlich zu machen – das möchte die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft so nicht hinnehmen.

Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich innerhalb von zehn Jahren in Deutschland verdoppelt - von rund 48 Millionen im Jahr 2007 auf 107 Millionen im Jahr 2017. Zusätzlich zu diesen von der Bundesregierung auf Anfrage der Bundestagsfraktion "Die Linke" veröffentlichten Zahlen, registrierte die Krankenkasse DAK 2018 erstmals wieder einen leichten Rückgang. So sei die Zahl der Fehltage ihrer erwerbstätigen Versicherten wegen psychischer Erkrankungen um 5,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Dennoch: Psychische Erkrankungen sind noch dritthäufigste Ursache für Krankheitstage (15,2 Prozent).

Eine "Versachlichung der Debatte" um psychische Erkrankungen fordert die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (Vbw). Der Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt meint, dass "leider Argumente im Umlauf sind, die emotional besetzt, aber faktisch falsch sind. Arbeit per se macht nicht krank. Gut gestaltete Arbeitsbedingungen wirken sich sogar positiv auf die Psyche aus".

Unter Berufung auf die Studie von Professor Florian Holsboer (siehe Interview oben) belege ein Vergleich von Berufstätigen und Nicht-Berufstätigen, dass es keinen Unterschied bei der Häufigkeit psychischer Erkrankungen gebe. "Arbeit ist kein besonderer Risikofaktor." Die ansteigende Anzahl an Diagnosen sei dar auf zurückzuführen, dass Betroffene heute häufiger einen Arzt aufsuchen würden und dieser öfter eine zutreffende Diagnose stelle. Brossardt versichert: "Die Unternehmen sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Denn von den betrieblichen Maßnahmen für Prävention und Gesundheitsschutz profitieren Arbeitgeber und Arbeitnehmer."

Doch offensichtlich bestimmen weiterhin Hetze und Zeitdruck den Arbeitsalltag von Millionen Arbeitnehmern in Deutschland. Einer aktuellen Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zufolge würden 52 Prozent d er Beschäftigten davon berichten. Zentrale Stressfaktoren seien zu knappe Zeitvorgaben und zu wenig Personal. Noch drastischer sind die Ergebnisse einer Online-Befragung der Pronova BKK. Demnach fühlen sich neun von zehn Arbeitnehmern gestresst - und jeder zweite hat das Gefühl, kurz vor einem Burnout zu stehen.

Autor

Bilder