Ihr Album „The Punishment of Luxury“ teilt sich den Namen mit einem Gemälde des italienischen Malers Giovanni Segantini („Die Strafe der Wolllüstigen“). Der Titel ist für Sie eine Metapher des modernen Lebens. Wie fühlt es sich an, in der Moderne zu leben?
Paul Humphreys: Manchmal wie eine Strafe! (lacht) Die Marketing-Kampagnen, die suggerieren, dass wir immer mehr Produkte brauchen, üben auf uns enormen Druck aus. Sie sagen: Ohne den allerneuesten Fernseher würden wir nicht glücklich sein.
Andrew McCluskey: Wir haben die Religion durch Materialismus ersetzt, von dem wir glauben, ihn kontrollieren zu können. Du bist nicht wert geliebt zu werden, solange dein Körper so aussieht! In der westlichen Welt geht es den meisten besser als jemals zuvor. Gleichzeitig werden wir immer unglücklicher, weil unsere Köpfe völlig vermurkst sind durch unser übersteigertes Konsumverhalten. Eigentlich müssten wir uns hinsetzen und unsere Segnungen zählen, stattdessen nehmen wir es als selbstverständlich hin, dass wir wohlgesättigt und frei in einem friedlichen Land leben und lassen den Marketing-Monkey von unseren Köpfen Besitz ergreifen. Das ist jedem von uns bewusst, aber wir können einfach nicht widerstehen. Das ist für mich „The Punishment of Luxury“.

Können Sie selbst den Verlockungen der modernen Welt widerstehen?
Humphreys: Ach, es gibt immer etwas, das mir gefällt. Meine Schuhe könnten zum Beispiel besser sein. Und Andy meint, ich sollte mir endlich ein neues Auto kaufen. Wir tappen doch alle in diese Fallen. 2013 waren wir auf Tour und unser Drummer und Schulfreund Malcolm erlitt auf der Bühne einen Herzinfarkt. Er war praktisch für dreieinhalb Minuten tot. Glücklicherweise haben Sanitäter ihn gerettet, aber er kann seitdem nicht mehr trommeln. Für uns als Band war das so schockierend, dass wir zwölf Monate pausierten und neu überdachten, was uns wirklich wichtig ist.

Haben Sie Ihr Tempo seitdem gedrosselt?
McCluskey: Ja, und zwar aus verschiedenen Gründen. Die Musikindustrie ist ein sehr egoistisches Business. Wenn du das Glück hast, erfolgreich zu sein, darfst du gern dein Leben lang nichts anderes machen als Musik. Dann hast du aber keine Zeit mehr für die Menschen, die du liebst. Ich habe Kinder und meine Mutter ist noch am Leben. Wir gehen auf die 60 zu und wollen mehr Zeit mit den Menschen verbringen, die uns wichtiger sind als ein weiteres Album, das sich gut verkaufen lässt, oder Interviews in Deutschland darüber, wie toll unsere Platte ist. Ich meine, sie ist wirklich gut geworden, deshalb sind wir ja auch hier. Wir haben schließlich vier Jahre daran gearbeitet! Darauf präsentieren wir unsere neuesten Ideen, Gedanken und Gefühle.

Seit Ihrer letzten Platte ist viel passiert auf der Welt. Sie scheint aus den Fugen geraten zu sein.
McCluskey: Es ist lange nicht so schlimm wie 1939, aber es passieren gegenwärtig auf jeden Fall eine Menge schrecklicher Dinge in Syrien und dem Mittleren Osten. Dazu die Flüchtlingskrise. Das alles hat das europäische politische System destabilisiert. Wir haben heute viele Politiker, die Lügen an das verängstigte Volk verkaufen. Daher der Aufstieg der rechten Parteien und der Brexit. Wirklich schwere Zeiten! Deshalb sollte man versuchen, etwas Gutes aus seinem Leben zu machen, so lange es noch geht. Es gibt ja auch Positives zu berichten: Wir haben heute weniger Tote durch Kriege und Krankheiten als früher. Früher war nicht alles besser, keine Panik!

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ist das der Grund, weshalb Sie immer noch Musik machen?
Humphreys: Ja, wir haben immer noch Hoffnung und Ideen.

Setzen Ihre Ideen mit Hilfe modernster Technik um?
Humphreys: Ja, wir sind durch und durch computerisiert. Viele junge Elektronikbands schaffen sich diese ganzen alten Moogs aus den 70er und 80er Jahren an. Wir haben unser altes Equipment eingemottet. Wir mögen die Flexibilität, die ein Laptop bietet. Natürlich lieben wir auch die alten Synthis, aber wir arbeiten lieber unmittelbarer. Mit den alten Geräten brauchst du manchmal Stunden, um einen Song zu sichern. Dabei gehen oft Ideen flöten.
McCluskey: Früher hatte man nur eine Rhythmusmaschine, zwei Synthis und einen Bass. Das war’s. Heute hingegen kann man aus 5327 Bassdrum-Sounds in der Library auswählen. Deshalb muss man lernen, sich selbst zu beschränken. Die alten Synthis kosten zudem viel mehr als die heutigen Computer. Wir leben in der modernen Welt, wir versuchen, uns nur dann Dinge zu kaufen, wenn wir sie auch wirklich brauchen. Und nicht, wenn uns eingeflößt wird, da sei ein tolles neues Laptop auf den Markt gekommen.

Heißt das, Sie arbeiten heute völlig anders als am Anfang Ihrer Karriere?
Humphreys: Im Gegenteil: Wir arbeiten heute eher wieder so wie früher. Ich lebe in London und Andy in Liverpool, weshalb wir uns lange Zeit gegenseitig immer Files schickten. Das ging auf Kosten der Spontanität. Deshalb haben wir beschlossen, wieder zusammen in einem Raum zu arbeiten und mit Ideen nur so um uns zu schmeißen.
McCluskey: Der Trick ist, eine Idee zu kriegen und diese auch so zu belassen und damit nicht endlos herumzuspielen. Das ist nicht kreativ. Alles, was vom ersten Demo bis zum fertigen Song passiert, wird bei uns festgehalten. Das Demo ist bei uns quasi schon der finale Song.

Was stimuliert Ihre Kreativität?
Humphreys: Jedenfalls keine Drogen!
McCluskey: Wir stimulieren uns gegenseitig. Ideen von zwei Leuten sind besser als von einem. Aber wir lassen uns auch inspirieren von Dingen, die wir sehen oder hören.

In „Arts Eats Art“ listen Sie einige der größten Künstler aller Zeiten auf. Was wollen Sie damit sagen?
McClusky: Der Song ist ein Kommentar auf den Umstand, dass in unserer postmodernen Ära die Populärkultur ihre eigene Geschichte auffrisst. Alles ist von allem beeinflusst. Der Text ist nicht mehr als eine Auflistung von genialen Architekten, Filmemachern, Modedesignern, Künstlern, Musikern. Ich hoffe, dass es da draußen Leute gibt, die mit dieser Liste überhaupt nicht einverstanden sind. Hirst fehlt in dem Song zum Beispiel, weil er sich nicht mit Botticelli reimt.

Was ist Kunst?
McCluskey: Das ist eine große Frage. Kunst ist eine Möglichkeit, seine Gedanken und Gefühle auszudrücken. Und zwar nicht in logischen Sätzen. Sondern in Gestalt von Gedichten, Songs, Filmen, Geschichten oder Bildern, die etwas kommunizieren, dass für andere Menschen nicht greifbar ist.
Humphreys: Wow, das hast du jetzt aber sehr schön erklärt!
McCluskey: Danke! Kann ich bitte die Aufnahme haben, das schaffe ich nicht nochmal. (lacht) Kurzum: Kunst ist keine gesprochene Sprache und drückt sehr subjektive, intime Gefühle aus, die man eigentlich nicht erklären kann. Sie ist sehr mächtig. Deswegen sind wir auch von anderen großartigen Künstlern beeinflusst. Auf der Platte finden sich fünf oder sechs Songs, die von Gemälden und anderen Kunstwerken inspiriert wurden. Ich bin ein großer Fan der Bauhaus-Kunst des frühen 20. Jahrhunderts.
Humphreys: Unsere Songs sind oftmals mehrdeutig. Manche Leute halten „Enola Gay“ für ein merkwürdiges Liebeslied, zu dem sie einfach nur tanzen wollen. Für andere hat der Titel eine tiefere, dunkle Bedeutung. Uns ist beides recht, so lange unsere Lieder irgendetwas kommunizieren.

„Precision & Decay“ ist ein Song über Detroit. Dort wurde einst der Techno-Sound erfunden. Gibt es solche Musikstädte heute noch?
McCluskey: Ich weiß nicht, ob wir in Zeiten der Globalisierung noch Kunstbewegungen haben, die sich geografisch eindeutig verorten lassen. Wir selbst sind in Liverpool aufgewachsen, wurden aber stark von Düsseldorf beeinflusst. Das ist die Heimatstadt unserer Musik. Aber auch Detroit war sehr wichtig für die Entwicklung der elektronischen Popmusik. Der Song „Precision & Decay“ handelt aber nicht von der Techno-Stadt Detroit. In den 30er Jahren gab es in Amerika eine Kunstrichtung namens Präzisionismus. Der Autobauer Ford beauftragte damals den Künstler Charles Sheeler, sein KFZ-Werk River Rouge in Michigan zu fotografieren. Es galt als Kathedrale der Modernität. Heute, 80 Jahre später, trifft man dort auf Ruinen und Verfall. Auf „Precision & Decay“ spiele ich übrigens mein erstes Basssolo überhaupt.

Sie sind riesige Kraftwerk Fans und haben die Band 1975 in Liverpool live gesehen. Eine Erfahrung, die Ihr Leben veränderte?
McCluskey: Um das ein für alle Mal klarzustellen: Nur ich habe sie damals gesehen!
Humphreys: Ich war zu der Zeit 15 und meine Mutter erlaubte mir erst mit 16, auf Konzerte zu gehen. Ich musste ja auch am nächsten Tag in die Schule. Aber Kraftwerks Manager lud mich zu ihrer diesjährigen Show in der Royal Albert Hall ein.
McCluskey: Es war der 11. September 1975 im Liverpool Empire. Sitz Q 36. Der erste Tag vom Rest meines Lebens. Und gerade habe ich Kraftwerk wiedergesehen – in Liverpool. 1975 war der Laden noch ziemlich leer. Diesmal aber hätten sie die Halle zehnmal ausverkaufen können.
Humphreys: Unfassbar, was diese Band heute darstellt. Live sind sie noch immer anders als jede andere Gruppe. Kraftwerk erfüllen keine angloamerikanischen Rockklischees. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nochmal ein Album mit neuen Songs herausbringen werden. Ralf Hütter ist heute eher daran interessiert, sein musikalisches Erbe zu kuratieren. Seine Ideen haben unser Leben und die Musikgeschichte verändert. Ich mochte immer die Menschlichkeit, die seine Musik in den 70er Jahren ausstrahlte. Heute hingegen habe ich das Gefühl, dass Kraftwerk bald auf Tour gehen werden ohne einen einzigen Menschen auf der Bühne. Immer, wenn ich Kraftwerk anpreise, kriege ich zu hören: Und was ist mit Elvis Presley und den Beatles?

Ein schottischer Journalist schrieb einmal: „Wenn Kraftwerk der Elvis Presley des Synth-Pop sind, dann sind Orchestral Manoeuvres In The Dark ihre Beatles. Wie finden Sie das Zitat?
McCluskey: Wow, was für ein toller Satz! Aber Kraftwerk waren schon vor uns da und Elvis kam bereits vor den Beatles. Es ist keine perfekte Analogie, denn Elvis schrieb seine Songs nicht selbst. Aber wir nehmen das Kompliment gerne an!

OMD auf Tour
Die britische Band geht auf „The Punishment of Luxury Tour“ und kommt am 30. November um 20 Uhr in die Tonhalle nach München. Karten gibt es bei uns.