Hof – Hof ist keine große Stadt. Aber größer als Eggenfelden ist es schon: gut drei Mal so groß. In angemessen weitem Rahmen weihte die Stadt 1994 mehrteilig ihr frisch errichtetes Theater ein, auch mit dem „Faust“, großzügig die neue, moderne Bühnentechnik nutzend. Aber sah Goethes Trauerspiel damals so bezwingend aus wie jetzt, am Donnerstag bei den Bayerischen Theatertagen im immer noch frischen, nur nicht mehr ganz neuen Haus? Auf eine enge, vierseitig von Publikumsreihen umgrenzte Arena, auf ein Fünf-Quadratmeter-Podest und auf vier Spieler hat Regisseur Uwe Lohr vom Theater an der Rott das Spiel beschränkt – und zugleich unabsehbar ausgeweitet. Dank solchen Minimalismus umfasst die großartige Produktion aus der Kleinstadt den Kosmos der „Faust“’schen Poesie und Gedankenfülle ganz und unverstellt: Erkenntnissuche, Liebessehnsucht und die Sucht nach „Lust“ und „Dust“ (Staub).

Auf dem Podest, gekrümmt: eine schwarze Spukgestalt, spargeldünn, reptilisch – ein Teufelsweib. Als müsste Mephisto sich selbst gebären, faltet sich Elisabeth Nelhiebel unter den Schmerzensschreien einer Entbindenden auseinander, krümmt, streckt sich, hängt lang die Zunge heraus. Als schnaubende Furie gibt sie den Leibhaftigen sagenhaft, im Doppelsinn. All seine überlieferten Wesenszüge versammelt sie beelzebübisch in sich: glühende Intelligenz und herzlose Kälte, höllischen Hass aufs Heilige, abscheulichen Hohn für alles Menschliche, komischen Zynismus und erbsenzählerische Geschäftigkeit, wenn sie ein Verderben ins Werk setzt.

Und sagenhaft, nämlich bewundernswert, zugleich die Dauer- und Rundum-Präsenz der Künstlerin: 135 pausenlos wuchtige Minuten lang spielt sie ihre Teufeleien kompromisslos aus, schlängelnd und sich spreizend, ohne ihre schier übermenschliche, unmenschliche Spannkraft zu verlieren. Rasend vor Ungeduld, Gift geifernd, Zähne fletschend, überschnell sprudelt ihr von Speichel schäumender Mund die Weisheiten eines Geists hervor, der stets verneint: „Alles, was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.“ Muss man ihr, bedenkt man’s recht, nicht Recht geben?

Bei Markus Fisher gäbe Faust das Denken gern auf. Freudlos hat ihn das Leben als Genie ermüdet bis zum Todeswunsch. Aber dass er dem Satan willenlos zum Opfer fällt, weiß er dann doch durch überlegene Gescheitheit zu vermeiden. Als Kombattanten gleichen Ranges und gleicher Radikalität stellt der Schauspieler den Superintellektuellen dem Gottseibeiuns entgegen. Zwei fordernde, einander herausfordernde Partner eines Pakts: Dicht vor den Zuschauern, sogar nachbarlich bei ihnen Platz nehmend, liefern sie sich Duelle der Verstandesschärfe.

Auf die unerhörte Tiefgründigkeit und gefährliche Schönheit in Goethes Knittelversen, Bonmots und Aphorismen verpflichtete Uwe Lohr sein Ensemble, wenn er den Text auch selbstbewusst zusammenstrich. So fällt, zum Beispiel, die Walpurgisnacht schlicht aus. Kein Verlust, merkwürdig. Auch ohne Bacchanal inszenierte der Regisseur ein Theater gegen die Erhabenheit, in dem edle Sprache keinen hohen Ton braucht. Zeitgemäße Flapsigkeiten unterlaufen hier und da die klassische Diktion, die so, obwohl sorgsam gehütet, ungeheuren kommunikativen Schwung gewinnt.

Viel grotesken Witz ersann er hinzu. So zapft Mephisto Rheinwein nicht in Auerbachs Keller aus einem Loch im Tisch, sondern in einer schnapsdunstigen Disco medizinisch keim- und einwandfrei aus dem Dickwanst eines Suffkopfs (Rüdiger Bach, mit etlichen altweiberlichen und jungmännlichen Nebenrollen betraut sozusagen das Faktotum der Produktion). Gleichwohl vergröbert der Übermut solcher Streiche das Ganze nicht zur Farce.

Schon darum nicht, weil Katharina Oraschnigg im Verhängnis Gretchens buchstäblich badet. Fein und sanft passt ihre fast kindhafte Erscheinung zur Unerwecktheit des „kleinen“, „ahnungsvollen Engels“. Bewegend natürlich, schüchtern ohne Koketterie offenbart sie dem schmeichelnden Faust ihre Zutraulichkeit. Dann, als Mörderin im Kerker mit dem Blut von Mutter, Bruder, Kind an ihren Händen, weitet sie die Augen vor Entsetzen – und verschließt vor dem Verführer das Gesicht.

Einen „zweiten Teil“ braucht die Eggenfeldener Tragödie nicht. Am Schluss erlischt das Licht schlagartig, Publikum und Szene ins schwarze Grauen der Aussichtslosigkeit hüllend. „Faust“ wie ein Faustschlag: Aus so existenzieller Nähe bezwingt einen Theater sonst nicht.

Am Samstag bei den Theatertagen:
? „Du und ich und das Meer dazwischen“. Studio, 16 Uhr.
? Nach Hans Fallada: „Kleiner Mann – was nun?“. Großes Haus, 19.30 Uhr.
Am Sonntag bei den Theatertagen:
? Franz Xaver Kroetz: „Ich bin das Volk“. Studio, 19.30 Uhr.
? Johann Wolfgang von Goethe: „Faust“. Großes Haus, 19.30 Uhr.