Thomas Pekny: Carl Philip, der Thomas Bernhard hat ja viel mit deinem Land zu tun. Auch mit der Stadt, in der du seit Jahren Intendant bist.

Carl Philip von Maldeghem: Ja, natürlich. Thomas Bernhards Werke wurden zu einem großen Teil am Salzburger Landestheater uraufgeführt, deswegen gibt es schon eine spezielle Beziehung zu diesem Autor, auch zu seiner ganzen Zerissenheit. Einerseits hat er wunderbare Theaterfiguren geschaffen, andererseits aber auch immer auch einen Zorn über die Welt in sich getragen. Diese Kompromisslosigkeit, die es manchmal braucht, um Theater zu machen, ist für mich eine seiner wesentlichen Komponenten. Du hast das Stück schon zweimal gemacht, oder?

Thomas Pekny: Ja, und es bedeutet mir unendlich viel. Nicht nur, weil wir jetzt hier sind und darüber reden. Ich sage schon seit Jahren, seit ich es das erste Mal gemacht habe, dass es für mich das beste Stück ist. Das klingt jetzt vermessen, weil man ja damit sagt, dass Goethe und Schiller und Shakespeare schlechtere Stücke geschrieben haben. Aber mir macht dieses Stück so wahnsinnig Spaß. Ich muss so irrsinnig lachen. Ich finde es so komisch und so skurril. Neulich war ich auf dem Weg hierher und bin extra über Gmunden gefahren, wo der Thomas Bernhard ja herkommt. Ich bin durch den Inn-Kreis gefahren. Da kommt man an all diesen Orten vorbei. “Rieth im Inn-Kreis, wo die Bühne zwei Meter breiter ist. Aber das war auch kein Vorteil.” Diese Satzfindungen finde ich so unglaublich lustig. Mir macht jede Probe Freude. Ich könnte das Stück pausenlos sehen. Ich finde es auch großartig, dass der Michael Lerchenberg die Kurve so toll gekriegt hat. Natürlich auch durch die Unterstützung von dir. Ich finde es interessant, dass Lerchenberg als Intendant und Schauspieler und Regisseur weiß, dass er sich da noch in eine wissende, formende Hand zu begeben hat. Viele Theatermacher glauben ja, dass sie sich auch selbst machen können.

Von Maldeghem: Dieses Stück ist ein Hochseilakt für jeden Schauspieler. Zunächst einmal ist es ein Kraftakt, zwei Stunden lang auf der Bühne zu stehen und quasi allein zu reden. Ich bin da sehr beeindruckt von Michael Lerchenberg und dem Stand der Proben. Das Interessante an dem Stück ist ja, wie bei vielen Shakespeare-Stücken eigentlich auch: Es ist eine Tragödie, wenn man sich anschaut, was dieser Theatermacher für Ambitionen hat und dass er damit doch ein Stück weit scheitert. Es ist gleichzeitig aber auch eine Komödie, weil es Momente gibt, die so absurd und sarkastisch sind, dass man eigentlich lachen muss – und auch darf.

Pekny: Genau diese Kontraste machen es ja zu so etwas Schönem. Eine Komödie funktioniert ja nur dann, wenn man die Momente, die tragisch sind, richtig bedient. Deswegen ist es für mich eine Komödie, die auch gleichzeitig eine Tragödie ist. Dieser arme Kerl ist ja wirklich eine gescheiterte Existenz.

Von Maldeghem: Ja, aber er ist einer, der nie bereit war, Kompromisse zu machen. Und ich glaube, dass das richtig ist. Wenn man Theater macht, wenn man Kunst macht, dann muss man Kompromisse möglichst vermeiden. Und davon erzählt das Stück auch etwas. Vom Perfektionsanspruch im Leben und in der Kunst. Für mich ist ja diese Luisenburg ein magischer Ort. Es ist ganz unwahrscheinlich, dieses Stück überhaupt auf diese Bühne zu bringen. Es ist ja als Kammerspiel geschrieben. Auf den ersten Blick gehört es nicht hierher. Auf den zweiten Blick gehört das Stück absolut hierher. Weil es eben von einem Ort erzählt, an dem – jedes Jahr neu – Theater erfunden werden muss. Du hast aber eine viel längere Geschichte mit dieser Bühne als ich, oder?

Pekny: Wenn man das so hört, Wunsiedel auf der Felsenbühne, Urwald, archaisch, dann denkt man sich: Die Atmosphäre muss für dieses Stück eigentlich völlig anders sein. Im Stück wird es ja gesagt: Es ist eine Depressions-Atmosphäre, ein muffiger Raum, alles ist verkommen und verschimmelt und widerlich. Aber hier ist nichts widerlich. Das ist erst einmal schlimm für einen Bühnenbildner …

Von Maldeghem: Ja, hier ist alles üppige, blühende Natur.

Pekny: Ich war immer so abonniert auf diese 180-Grad-Drehung. Dass man dann in den leeren Zuschauerraum sieht. Das ist hier anders gelöst. Ich fragte mich, wie macht man den Dreh, wenn das Publikum gegen die Felsen schaut. Und der Michael Lerchenberg und natürlich auch du haben gesagt: Diese 180-Grad-Drehung wird hier nicht funktionieren. Gestern in der Durchlaufprobe habe ich gesehen, wie großartig es ist, dass die Szenen hier unten spielen, die eigentlich auf der Bühne spielen. Es vermischt sich dann. Und das funktioniert richtig gut. Wenn du sagst “magischer Ort”, dann muss ich dir zustimmen. Du warst vor 15 Jahren hier, oder?

Von Maldeghem: Vor 17.

Pekny: Ich habe ja hier schon drei, vier Stücke gemacht. Zuletzt war ich vor elf Jahren hier. Aber: Ich war ja als Kind schon hier. Deswegen ist es für mich ein noch magischerer Ort, weil ich ja viele Steine schon jahrzehntelang kenne. Die habe ich mir als Kind gut eingeprägt. Neulich habe ich diesen Walfisch-Stein, der am Weg hierher liegt, nicht mehr gesehen, weil man den Wald gerodet hat und ich dachte, der liegt unter großen Bäumen. Aber dann habe ich ihn doch noch gefunden. Und es kommt noch ein Punkt hinzu: Meinem Vater wurde diese Rolle des Theatermachers angeboten. Er hätte sie in Salzburg bei den Festspielen und in Wien am Burgtheater in der Peymann-Inszenierung spielen sollen. Das löste eine Familienkrise aus, weil er – als Österreicher – sagte: “Nein, ich werde doch mein eigenes Nest nicht beschmutzen.” Und meine Mutter sagte: “Vater, Mann, versteh’ doch, dass du dumm bist, wenn du diese Sensationsrolle nicht spielst.” Aber nein, er hat es nicht gespielt. Traugott Buhre hat es dann gespielt.

Von Maldeghem: Du hast eben von einer Familienkrise gesprochen. Thomas Bernhard hat ja viele Theaterskandale heraufbeschworen. Und diese Erwartung gibt es hier ja ein Stück weit auch. Aber tatsächlich ist es ein Text, der sich an einer bestimmten Gegebenheit abarbeitet. Und es ist wiederum ein so großer klassischer Text, dass da jeder hineinschauen und hineinhören kann, was er will.

Pekny: Das stimmt.

Von Maldeghem: Wenn man das auf eine bestimmte Situation bezieht, dann kann man das tun. Thomas Bernhard war ja einer der ersten Autoren, die ohne Satzzeichen geschrieben haben. Auch heute gibt es wieder so eine Tendenz zu Textflächen. Bernhard war da eine Art Vorreiter. Ich bin kein großer Freund davon. Aber wenn man sich das anschaut, dann sieht man, dass der Thomas Bernhard durch die Art und Weise des Schreibens sehr genau Vorgaben gegeben hat, wo ein Satz anfängt und wo er aufhört. Auch die Regieanweisungen sind von einem sehr, sehr guten Theaterhandwerker gemacht. Es ist ja heute so, dass man nicht alles, das der Autor hineingeschrieben hat, als Regisseur auch umsetzen muss. Aber ich tendiere dazu, auf jeden Fall alles einmal auszuprobieren. Und die von Thomas Bernhard geschriebene Regieanweisung hat immer die Szene gestärkt. Deswegen haben wir uns über weite Strecken daran gehalten. Auch wenn die Bühne hier natürlich kein alter Wirtshaussaal ist, sondern bei uns eine Art Gast-Garten eines Landwirtshauses. Und, Thomas, ich mag deine Bühne total gern, weil sie so klare Akzente setzt. Weil sie nicht so heimelig ist. Du hast da viele große Akzente gesetzt.

Pekny: Na ja. Soweit man hier überhaupt Akzente setzen kann. Es ist sehr freundlich, dass du das sagst, aber eigentlich kann man hier gegen die Felsen und gegen die Bäume und gegen das üppige Grün gar nicht wirklich ankommen. Man muss hier einen großen Bogen kriegen. Dennoch braucht man diese Momente. Es ist halt so, dass ich gerne nicht alles mit vielen Farben zudecke. Ich möchte eine grundsätzliche Ehrlichkeit in den Materialien. Und das ist mit dir gut zu machen. Weil du eben auch den Gesamtbogen einer Arbeit siehst und nicht in kleinen Dingen aufgehst.Du bist überhaupt kein Requisiten-Regisseur. Bei dir wird immer im Großen gearbeitet. Deswegen fühle ich mich auch so hingezogen zu deiner Art zu arbeiten.

Von Maldeghem: Es gibt ja den berühmten Notlicht-Skandal, den Thomas Bernhard in Salzburg ausgelöst hat. Das thematisiert er selber in diesem Stück.Und das ist ein wesentlicher Akzent auf der Bühne. Es sind unglaublich viele Notlichter hier angebracht, in dieser übertriebenen Behauptung dessen, was Behörden alles vorschreiben. Aber es bleibt eine der Theater-Überraschungen dieses Abends, ob und wie und wann die Notlichter ausgehen. Außerdem gibt es den “Schwarzen Hirsch”, der in unserem Fall gar nicht schwarz ist, es gibt eine Vier-mal-vier-Meter-Brettlbühne und der Schweinekoben ist genauso groß. Die Menschen haben also auf unserer Bühne genau so viel Platz wie die Schweine. Das hat sich der Thomas natürlich toll ausgedacht. In diese ländliche Idylle bricht eben diese Familie mit ihrem Auto ein. Das ist der Anfang dieser Geschichte.

Pekny: Wir haben hier echte Schweine auf der Bühne.

Von Maldeghem: Und die grunzen tatsächlich auf Kommando! Es sind an den Menschen gewöhnte Schweine von einer Familie aus der Umgebung, die sehr liebevoll mit denen umgeht. Wir sind alle aneinander gewöhnt.

Pekny: Die gehen auch gerne in unseren Schweinekoben hinein. Darauf freuen sie sich schon immer. Sie werden reingeführt, kriegen gutes Stroh. Und irgendwann legen sie sich hin. Wir haben ihnen extra noch einen Unterschlupf gebaut, den wir nach vorne drehen können. Wenn sie schlafen, dürfen sie also auch noch als schlafende Schweine mitspielen. Das ist ganz schön. Ich würde ganz gerne noch zu den Notlichtern was sagen. Für mich ist das der visuelle Hauptakzent vom Bühnenbild. Weil sie so klein sind. Sie leuchten wie die Glühwürmchen im Wald. Die großen Akzente werden vom Publikum natürlich immer eher wahrgenommen, aber in diesem Fall glaube ich schon, dass diese leuchtenden Elemente auch verstanden werden. Für mich sind so kleine Momente, die auf einer Grundidee – die natürlich letzten Endes von Thomas Bernhard kommt – basieren, schon wichtig. Für mich mit meiner Professur für Kommunikation im Raum an der Hochschule in Pforzheim sind solche Momente, die erst mal nur nach wenig aussehen, schon bedeutungsvoll.

Von Maldeghem: Für die Titelfigur erfüllt der Michael Lerchenberg eine Menge Voraussetzungen. Zuerst muss es ein Schauspieler sein, der in der Lage ist, Mittelpunktfiguren zu spielen. Das hat Michael Lerchenberg über viele Jahrzehnte bewiesen, im Fernsehen und auf der Bühne. Zweitens ist dieses Stück ja immer auch eine Art künstlerischer Lebensbilanz. Michael ist jetzt nicht in dem Alter, in dem er eine künstlerische Lebensbilanz machen müsste, aber den Gedanken, damit eine Intendanz von fast fünfzehn Jahren ausklingen zu lassen, finde ich klug und richtig. Wenn es dann noch so ist, dass man durch die Anforderungen des Textes noch einiges auf die Situation hier beziehen kann (oder das auch sein lassen kann), dann ist das noch mal eine ganz schöne Voraussetzung. Es ist trotzdem genau der Original-Text, wie ihn Thomas Bernhard geschrieben hat. Er ist in keiner Hinsicht geändert.

Pekny: Ich sehe das ganz genauso wie du. Es steht ihm zu, das jetzt zu machen. Außerdem: Mehr oder weniger einen Monolog von fast zwei Stunden zu halten, das ist schon eine Leistung. Und er konzentriert sich ja nicht nur auf den Text, sondern spielt auch noch dabei: Alle Achtung! Das muss man erst einmal hinkriegen. Es gibt sicher viele Schauspieler, die diese Rolle toll finden, die aber so Angst davor haben,das zu lernen, dass sie sie ablehnen würden.

Von Maldeghem: Da hast du recht. Es ist in dieser Aufführung natürlich eine Glanzleistung von Michael. Aber es ist trotzdem ein Ensemblestück geworden.

Pekny: Ja, das ist das Tolle. Weil die mit Gesten oder nur mit wenig Text auch ganz viel erzählen.

Von Maldeghem: Sowohl Carolin Waltsgott und David Zieglmaier als Tochter und Sohn sind da ganz wichtige Partner. Aber auch die Familie des Wirtes, allen voran Fredl Schedl. Das ist schon ein sehr genau gearbeitetes Ensemblestück geworden. Wir hatten heute auch zwischen den Hauptproben noch einmal eine Probe, wo wir nur die Momente geübt haben, wo Blicke sitzen müssen. Auch das wollten wir genau erarbeiten.

Pekny: Für mich ist es sehr wichtig, jetzt hier zu sein. Ich kenne den Michael jetzt schon Jahrzehnte. Deshalb ist mir diese Art seines Abschieds von der Luisenburg sehr wichtig.

Von Maldeghem: Es ist nicht nur ein Stück über Theater, sondern ein Stück über das Leben und die Kunst. Auch über Anspruchshaltungen. Und: Grausamkeiten. Man darf auf keinen Fall alles für bare Münze nehmen, was da gesagt wird. Der Bruscon geht ja über Grenzen hinweg, schon, wie er mit seiner Familie umgeht. Er sagt ja auch: “Ich bin über Leichen gegangen und habe es für richtig gehalten.”

Pekny: Deswegen kriegt jetzt der Wirt ja auch noch ein Metzgerbeil.

Von Maldeghem: Es ist ein Existenz-Stück.

Pekny: Was ich in anderen Inszenierungen noch nie so gesehen habe, ist, dass es fast schon zu einem Gruselkabinett wird, wenn vom “Blutwurst-Tag” die Rede ist. Wo der Wirt dann in Emotion gerät, weil er diesen “Blutwurst-Tag” schon sehr schätzt. Und da weicht der Michael dann ein paar Schritte zurück. Das finde ich unglaublich. Du hast wirklich viele Momente so fein herausgearbeitet. Durch die Arbeit mit dir erlebe ich das Stück noch einmal ganz neu. Da sieht man – und ich wiederhole meine Aussage vom Anfang - wie wichtig es ist, einen Regisseur zu haben. Ich finde es toll vom Michael, dass er sich da führen lässt. Dass er eben nicht glaubt, alles selber zu können.

Von Maldeghem: Obwohl er’s kann. Er kann alles.

Protokolliert von Andrea Herdegen

Die zwei Theatermacher
Thomas Pekny, in Linz geboren, hat in München studiert und arbeitet seit Mitte der 1970er-Jahre als Bühnenbildner und Ausstatter an Theatern in Deutschland und Österreich, in Polen, Russland und China. Seit 1996 ist er Professor an der Hochschule Pforzheim für Experimentelle Gestaltung, Mode- und Bühnenkostüme. Seit Februar 2016 ist er neben seiner Tätigkeit als Bühnen-, Kostümbildner und Hochschulprofessor Intendant und Geschäftsführer der Komödie im Bayerischen Hof und der Münchner Tournee.
Carl Philip von Maldeghem, 1969 in Prien am Chiemsee geboren, ist studierter Jurist, hat nach dem Abschluss aber ein Schauspiel- und Regiestudium in New York angehängt. Er hat vor allem in Deutschland, Österreich und Italien gearbeitet. Im Herbst 2002 übernahm er die Intendanz de Schauspielbühnen Stuttgart, die er in die Spitzengruppe der deutschen Sprechtheater führte. Seit Sommer 2009 ist er Intendant des Salzburger Landestheaters. Auch hier hat er für einen künstlerischen Aufschwung und eine erhebliche Steigerung der Besucherzahlen gesorgt.