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Herr Professor Keilhofer, Sie sagen, die Würde des Menschen hat einen höheren Stellenwert als das Kapital. Geht denn die Entwicklung nicht momentan genau in die andere Richtung?
Ja, das denke ich für den Augenblick auch. Aber: In unserem Grundgesetz, Artikel 1, Absatz 1, ist die oberste Spielregel unserer Gesellschaft definiert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Gegen dieses allgemeine Prinzip verstoßen wir nicht erst seit vorgestern oder vorvorgestern. Die Kapitalinteressen stehen schon lange im Vordergrund, die Menschenwürde – und dazu gehört für mich zwingend auch die Arbeitsplatzsicherheit – steht zurück. Arbeitsplätze sind doch ziemlich disponibel. Geht’s den Unternehmen gut, bauen sie Personal auf, geht’s ihnen schlecht, bauen sie Personal ab. Nur wenige Industriezweige haben sich dagegen gestemmt, diese Logik permanent mitzumachen. Zu diesen Unternehmen gehört Volkswagen - mit Arbeitsplatzsicherungs-Maßnahmen über Betriebsvereinbarungen. Das geht natürlich auch nicht zu hundert Prozent. Aber es wird zum Beispiel vereinbart, in einem bestimmten Zeitfenster auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. Das sind doch schon die ersten Anzeichen für mögliche Trendwenden.
Wenden hin zu mehr Würde?
Natürlich. Ein Mitarbeiter, der einen festen Arbeitsplatz hat, lebt doch ganz anders, als einer, der jeden Morgen beim Blick in den Spiegel denkt: Vielleicht ist übermorgen mein letzter Tag. Das wirkt auf familiäre Investitionen: Erwirbt man Eigentum, baut man ein Haus, und so weiter. Die Antwort für die Zukunft muss also sein: Wir müssen das – auch gesellschaftliche – Interesse nach Arbeitsplatzsicherheit stärker und besser erfüllen, als wir das in der Vergangenheit getan haben.
Diese Sicherheit ist für Sie ein entscheidendes Stück Menschenwürde?
Das ist ein Stück gelebte Menschenwürde. Die Alternative wäre doch: Arbeitslosigkeit. Und die ist unwürdig. Sie bringt den Einzelnen in einen Zustand, in dem er gesellschaftlich sehr schnell in den Ruch kommt, er wolle vielleicht gar nicht arbeiten, wolle sich lieber in der Hängematte ausruhen. Die Frage ist: Welchen Selbstwert entwickelt man in dieser Situation, auch für weitere Aktivitäten. Von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, ist immer ein sehr, sehr schwieriges Thema.
Das sieht ja auch die Politik so...
Ja, immer wenn gerade Bundestags- oder Landtagswahlen vor der Tür stehen, wird als vordringlichstes Ziel versprochen: Wir wollen die Arbeitslosigkeit abbauen. Und nach der Wahl beginnt das Interessenspiel, in dem die Politik eigentlich mehr tun müsste, wenn sie ihr Versprechen einlösen wollte. Da müsste es klare Leitsätze geben, etwa: Wenn ein Unternehmen in den schwarzen Zahlen ist, dann darf es nicht parallel dazu verkünden, es würden ein paar tausend Leute abgebaut.
An dem Punkt waren wir vorhin schon: Geht’s den Unternehmen gut, werden Arbeitsplätze aufgebaut, geht’s ihnen schlecht, werden Stellen gestrichen. Aber im Moment ist es ja auch umgekehrt: Unternehmen machen immense Gewinne und setzen trotzdem Tausende vor die Tür.
Das kommt davon, dass für die Investoren fiktive Kapitalrenditen erfunden werden. 25 Prozent geistern da oft herum. Stellen Sie sich das mal vor: Von im Januar investierten 100 Euro erwarten sie zu Silvester 125 Euro zurück. Das ist für mich völlig irreal. Vier, fünf Prozent Rendite erscheinen unter günstigen Umständen machbar, aber doch keine 25.
Es braucht also ein Umdenken, weg von der Jagd nach immer höheren Renditen?
Genau. Im Vorhaltewinkel der Manager muss ein Aufgabenfeld neu definiert werden. Ihre Aufgabe kann nicht nur sein, Kapitalrenditen zu erwirtschaften und Gewinne zu maximieren. Sie müssen gleichzeitig vernünftige Maßnahmen zur Arbeitsplatzsicherung einleiten. Das muss den gleichen Stellenwert haben, im Grenzfall muss sogar die Arbeitsplatzsicherung Vorrang haben. Letztlich zahlen wir doch alle miteinander den Preis. Ein Beispiel: Die AEG in Nürnberg hat der Agentur für Arbeit kürzlich 1700 Arbeitsplätze vor die Haustür gekippt. Warum? Weil der Mutter-Konzern Elektrolux entschieden hat, wegen nicht ausreichender Kapitalrenditen das Werk nach Polen zu verlagern. Wenn man das zu Ende denkt, dann heißt das: Der Unternehmer kassiert in Polen EU-Förderung – die Deutschland als Hauptbeitragszahler der EU-Kassen über Steuergelder wesentlich mitfinanziert – und die deutschen Arbeitnehmer werden entlassen und müssen ebenfalls von der Gesellschaft finanziert werden. Das ist doch keine soziale Marktwirtschaft, sondern unsozial und eine Form von Raubtier-Kapitalismus. Wenn solche Dinge umgesetzt werden, obwohl nicht mal sachliche betriebswirtschaftliche Interessen dahinter stehen, sondern nur noch die Gier nach dem einen oder anderen Rendite-Prozent mehr, dann ist das für mich nicht mehr nachvollziehbar. 1700 Menschen sind dann plötzlich völlig egal? Das darf doch nicht sein.
Die Menschen empfinden sich ja immer mehr als Opfer dieser Raubtier-Mentalität. Die Arbeitswelt wird immer härter, immer entmenschlichter. Sie fordern in ihrem Buch darum eine neue Humanisierung der Wirtschaftswelt. Wie könnte das aussehen?
Ich bin fest überzeugt, dass man zunächst einmal aufhören muss, in der Gesellschaft unnötig Geld auszugeben. Jedes Jahr werden Milliarden verschleudert, der Bund der Steuerzahler weist das immer schön säuberlich nach, aber: Es wird nicht abgestellt. Das zweite Thema ist: Wir müssen bestimmte Dinge einfach besser organisieren. Auch hierbei muss man sich die Frage stellen: Steht der Mensch im Mittelpunkt dessen, was uns antreibt, oder ist es das Kapital? Der Gesellschaft muss endlich klar werden, dass im Absatz 1 des Grundgesetzes eben nicht steht: „Das Kapital ist unantastbar.“ Die Menschenwürde ist es. Also ist es überfällig, dass wir intelligente Lösungen suchen, die den Einzelnen in seiner Arbeit besser schützen. Beamte bilden ja schon so eine geschützte Gruppe. Warum schreibt man nicht in die Tarifverträge Schutzbestimmungen für ältere Arbeitnehmer? Es gäbe eine Menge von Maßnahmen. Man muss sich nur darauf einlassen. Alles ist besser als Arbeitslosigkeit, denn die ist der Beweis der Hilflosigkeit einer Gesellschaft. Man drückt jemanden jeden Monat Geld in die Hand - für nix. Und man entwertet diesen Menschen Monat für Monat, bis er in Hartz IV rutscht.
Wo ja leider immer mehr Menschen landen...
Das ist doch schade. Vor allem, wenn man miterleben muss, wie große Teile der Bevölkerung deswegen schon diskriminiert werden. Hartz IV ist ein Makel, der an einem klebt. Eine humane Gesellschaft, noch dazu eine der reichsten der Welt, kann es sich eigentlich nicht leisten, derartige humane Ressourcen zu verschwenden, nur weil wir dem Geld hinterher laufen.
Was also tun?
Das Gemeinwesen muss so geordnet werden, dass der Teil, der keine Arbeit hat, wieder in den Stand gesetzt wird, eine neue Aufgabe zu übernehmen. Ich bin der Überzeugung – und das fordere ich auch in meinem Buch – dass die Menschenwürde vor den Kapitalinteressen zu bewerten ist. Das habe ich nicht erfunden, das habe ich nur unserer Kulturordnung entnommen und eben mal laut ausgesprochen. Dass manche das nicht hören wollen, ist mir schon klar.
Aber die meisten Menschen werden Ihnen sicher zustimmen. Wie kann denn die Gesellschaft kundtun, dass sie diesen Wandel will? Denn: Allein durch Wahlen scheint es ja nicht mehr zu funktionieren, ob rot-grün oder schwarz-gelb macht ja kaum noch einen Unterschied für die Interessen der Arbeitnehmer.
Wir bräuchten eine neue Philosophie der Menschlichkeit, die verantwortlich handelt. Aus einer ethischen Basis heraus, die sich nicht von Zufälligkeiten ableitet, sondern die alle Entscheidungen prüft und fragt: Dient das dem Menschen? Ein Beispiel: Die Wissenschaft hat sich immer mehr spezialisiert, ja atomisiert: Physik, Mathematik, Medizin. Es fehlt die „Mutter der Wissenschaften“, deshalb fordere ich eine Reaktivierung der Philosophie. Denn nur über die Frage von Ethik und Verhaltensregeln lässt sich eine vernünftige Prioritätenliste zu Stande bringen. Soll man wirklich für Hunderte von Millionen Euro die kleinsten Teilchen unserer Welt noch schneller beschleunigen? Oder sollte man das Geld lieber einsetzen, um Medikamente gegen mörderische Krankheiten wie Aids oder Malaria zu erforschen?
Wer soll das festlegen? Die Politik?
Die Politiker werden doch überhaupt nicht mehr für ihren Job ausgebildet. Da hat man mal einen Wirtschaftsminister, der in diesem Fach eine gute Ausbildung hat, dann ist er übermorgen schon Verteidigungsminister. Und überübermorgen? Da macht er halt, was dann ansteht. Die Menschen haben aber ein gutes Gespür dafür, was echt und was unecht ist. Unser Gemeinwesen ist durch die politische Klasse frustriert. Zur Wahl gehen? Wieso, es ändert sich doch sowieso nichts. Die politische Klasse genießt kein Ansehen mehr. Ich möchte, ehrlich gesagt, auch kein Politiker sein. Wer lässt sich schon gern permanent beschimpfen?
Und wenn Sie doch einer wären? Was müsste angepackt werden?
Alle sieben Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger. Da reicht es nicht, das schlechte Gewissen mit einem schönen Benefizkonzert zu beruhigen. Die zivilisierten Nationen tun wenig bis nichts, um den Welthunger zu stoppen, um ärztliche Versorgung für alle Menschen sicherzustellen. Wir könnten es tun: Die größten fünf Wirtschaftsnationen müssten nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts dafür zur Verfügung stellen. Die Politik ist offenkundig nicht bereit, diese Weichen zu stellen. Aber würde man die Bevölkerung fragen, dann glaube ich, man käme hin.
Die ethische Grundlage muss also von der Basis kommen?
Wir müssen mal anfangen, von Kultur zu reden. Von der Gestaltung einer Kultur, die den Menschen gemäß ist. Sonst wird sich nichts ändern. Wenn wir unser Denken nicht umstellen, dann werden wir auch in zwanzig, dreißig Jahren noch dem Geld gierig hinterher laufen.
Sie haben ja Ihren Doktor in Psychologie gemacht, kennen sich also mit den Verdrängungsmechanismen gut aus, die da wirken...
Ja.
In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich aber viel mit Philosophie. Wie bringen Sie das zusammen? Auf der einen Seite haben Sie den philosophischen Ansatz, die Welt als Ganzes zu sehen und die Rolle jedes Einzelnen als wichtigen Teil dieses Ganzen zu begreifen. Auf der anderen Seite muss der Psychologe erkennen, dass unten von den hehren Zielen kaum etwas ankommt, geschweige denn umgesetzt wird.
Das ist frustrierend. Aber dann auch wieder nicht: Wenn ich mir unser Bildungssystem anschaue, dann sehe ich da die einmalige Chance, Werte zu entwickeln und Dinge in die Köpfe unserer Kinder zu pflanzen. Wenn wir ihnen die menschengemäße Kultur vorleben, dann werden sie es später automatisch richtig machen. Je früher man das tut, desto besser ist es. Das wäre der einfachste Weg.
Aber darum geht’s ja in der Schule überhaupt nicht...
Leider. Man müsste die Lehrpläne entrümpeln. Wenn ich mir die kleinen Kerle angucke, die kaum größer sind als ihre Schulranzen, und die mit immer mehr Stoff und immer mehr Stoff gefüttert werden - das kann es doch nicht sein. Die Kunst in der Pädagogik ist es eigentlich, das Unnötige wegzulassen.
Tatsächlich weggelassen wird aber weitgehend die pädagogische Ausbildung der Lehrer.
Das ist einer der wesentlichen Punkte, auf die ich in meinem Buch eingehe: Wir müssen unser Bildungssystem ändern. Da wird so viel falsch gemacht. Wir überfrachten die Kinder mit Stoff, bringen ihnen aber das Wesentliche nicht bei. Wer aus der Hauptschule rauskommt, muss einfach ordentlich lesen und schreiben können. Und das kleine und das große Einmaleins beherrschen. Dann kann man jeden Beruf lernen, weil man die Werkzeuge dazu hat. Ohne diese Basis-Werkzeuge dürfte kein Schüler mehr von der Schule abgehen. Dazu gehört übrigens für mich auch Musik oder Sport. Es müsste auch mehr pädagogisches und psychologisches Potenzial in die Schulen fließen. Dort zu sparen, ist doch völlig unsinnig. Die Zukunft beginnt immer mit den Kindern. Also müsste man da die größte Sorgfalt hineinlegen. Auch, wenn es um die Qualität der Pädagogen an unseren Schulen geht. Die besten Pädagogen gehören in die Grund- und in die Hauptschulen, weil sie da noch am wirkungsvollsten etwas verändern können. Und: Ein Hochschulprofessor muss nicht mehr verdienen als ein sehr guter Pädagoge in der Grundschule.
Da werden Sie sich bei Ihren Kollegen an der Uni aber unbeliebt machen...
Sowieso. Bei uns ist vieles gewachsen, aber manches hat sich auch in die falsche Richtung entwickelt. Das gehört sich eigentlich auf den Kopf gestellt. Wenn wir über die Förderung von Elite-Universitäten diskutieren, dann zäumen wir doch das Pferd von hinten auf. Ich würde erst mal die Grund- und Hauptschulen reformieren. Da muss man anfangen. Das Bildungssystem muss einfacher werden. Weniger ist manchmal mehr.
Derart grundlegende Veränderungen sind aber doch kaum durchsetzbar...
Als Visionär kann ich mich nicht fragen: Wie viele hundert Jahre dauert es, bis alles umgesetzt ist? Sondern ich frage: Womit fange ich an? Entweder hat man den Mut, sich auf alte Werte zu besinnen, auf ernsthafte und humane Politik, oder man gibt sich mit den Sonntagsreden zufrieden. Man muss anfangen, quer zu denken, auch wenn man damit nicht alle Probleme sofort lösen kann.
Wichtig ist Ihnen zunächst einmal also ein erster Schritt?
Ja, es muss einen Anstoß geben. Und es gibt ja schon viele große Unternehmen, die – gerade was die Mitbestimmung angeht – bereits viel stärkere Anstrengungen unternehmen, um das in ihren Betrieben zu aktivieren. Wenn ich einen Sachbearbeiter nicht an den Entscheidungsprozessen beteilige und ihm keinen Spielraum auch für eigene Entscheidungen lasse, dann brauche ich mich nicht zu wundern, wenn dieser Beschäftigte seine Arbeitsmoral verliert. Denn: Er spürt keine Anerkennung mehr in seinem Job. Es ist also, wie ich finde, das Normalste von der Welt für gut geführte Unternehmen, darauf zu schauen, dass Problemlösungsprozesse optimiert werden, dass aktive Mitentscheidung und Mitgestaltung gilt. Die besten Firmen sind diejenigen, die das Potenzial ihrer Mitarbeiter voll ausschöpfen.
Es steht ja auch nirgendwo geschrieben, dass man am Werkstor seine demokratischen Rechte abgeben muss.
Das heißt aber nicht, dass bei VW die Belegschaft demokratisch darüber abstimmt, ob der nächste Scheinwerfer vom Golf rund oder eckig wird?
Nein, das nicht. Aber wenn ich zum Beispiel zuständig bin für den Einkauf von bestimmten Teilen, dann muss ich im Rahmen meiner Befugnisse entscheiden können. Darüber gibt es natürlich Hierarchien, wenn das ein bestimmtes Volumen übersteigt. Aber oft genug wird der Vorgesetzte sagen: „Entscheiden Sie das ruhig, ich traue Ihnen zu, dass sie das richtig machen.“ So werden viele Entscheidungen dort getroffen, wo sie hingehören. Natürlich: Strategische Ausrichtungen werden nicht in der Kantine oder am Fließband getroffen. Aber am Fließband wird durchaus entschieden, wie etwas besser eingebaut werden kann.
Wenn also jemand am Fließband eine gute Idee hat, wie die Produktion besser laufen könnte, dann darf er das auch vorschlagen?
Genau so ist es. Im Vorschlagswesen ist VW mit an der Spitze. Wir sind da sehr gut und unterstützen diese Prozesse. Das ist natürlich immer auch abhängig von der Qualität der Führungsarbeit. Der Boss muss mitmachen. Es geht darum, die Menschen möglichst mitzunehmen.
Liegt denn der Management-Nachwuchs auf dieser Schiene? Oder steht dort immer noch die Gewinn-Maximierung allein im Vordergrund?
Gut, diese Verantwortungsethik, die auf dem kategorischen Imperativ von Kant aufbauen soll, ist noch nicht geschrieben. Aber sie ist überfällig. Sie müsste dann natürlich auch in die Lehrpläne eingebunden werden. Und das müsste dazu führen, dass diese Ziele gesellschaftlich akzeptiert und unterstützt werden. Auch mit der Gewichtung: Arbeitsplatzsicherheit vor Kapitalrendite. Das müssten die Aufsichtsräte ihren Managern auf Zeit ins Gebetbuch schreiben – und sie dann auch daran messen. Wenn Manager nur fit darin sind, Bilanzsummen zusammenzurechnen, dann ist mir das zu wenig. Wenn jemand für Tausende von Menschen Verantwortung hat, muss soziale Kompetenz zwingend dazugehören. Es ist doch moralisch total verwerflich, wenn man sagt: Ich brauche ein positives Ergebnis, deshalb baue ich 2000 Leute ab. Das ist doch pervers.
Aber genau aus diesen Perversionen speisen sich ja steigende Aktienkurse...
Deshalb sage ich ja: Über eine Einzelkorrektur werden wir wenig erreichen. Wir müssen eine Ethik entwickeln, die unser Verhalten normiert und bestimmt. Schlimm genug, dass es die noch nicht gibt. Deshalb muss man jetzt wieder einen Anlauf nehmen, um die Gesellschaft zu ändern. Im Buch habe ich dazu Karl Marx zitiert, der – als Sozialwissenschaftler und Philosoph – eine Idee hatte, die aus dieser grauen Ausbeutungsstufe heraus kam, in der die menschliche Arbeit ja nun wirklich nichts wert war und in der es eine enorme Verelendung gab. Es gab die Superreichen, die nicht wussten, ob sie noch einen Truthahn mehr schlachten sollen, und es gab die anderen, die gestorben sind, weil sie einfach nichts zu fressen hatten. Das Marx daraus die Idee des Kommunismus geboren hat, ist nachvollziehbar. Ich würde mir aber heute keinen Kommunismus mehr wünschen, sondern eine geänderte soziale Marktwirtschaft, mit den sozialen Prämissen, die wir ja eh schon definiert haben. Wir müssten es nur ausleben.
... und auf keinen Fall so weitermachen, wie bisher ...
Das können wir gerne tun, aber dann werden wir nichts bewirken. Das Ansehen der Politik wird sich noch weiter verschlechtern. Keiner wird mehr in die Politik wollen. Wir erleben ja jetzt schon eine Flut von Rücktritten, Köhler, Koch, van Beust. Die haben die Grenze erreicht, die wollen sich das nicht mehr antun. Also: Wir müssen das Ansehen der politischen Klasse wieder anheben. Jeder sollte sich wieder an diesem Prozess beteiligen, Demokratie lebt vom Mitmachen. Dazu müsste auch diese Ethik der Verantwortung konkreter formuliert werden, mit dem konkreten Auftrag, eine menschenwürdige Gesellschaft zu gestalten. Dabei ist zu bedenken: Die Welt wird ja nicht von Philosophen regiert. Leider. Oder manche werden sagen: Gott sei Dank. Man müsste aber zumindest eine Reaktivierung der Philosophie vorantreiben, anstatt – wie in den letzten hundert Jahren – nur die Philosophie-Geschichte zu betrachten.
Und diese neuen Gedanken müssten dann auch weitergegeben werden?
Selbstverständlich gehört das dann auch in die Lehrpläne rein. Momentan sind doch zum Beispiel die Wirtschaftstheorien nur auf Wachstum begründet. Da heißt es: Die Bedürfnisse des Menschen sind unendlich. Das glaube ich nicht.
Die Bedürfnisse vielleicht schon, aber die Ressourcen sicher nicht...
Sehen Sie! Daraus kann man doch ableiten: Vielleicht sind da Bedürfnisse, die so wichtig gar nicht sind. Wo ist denn der große qualitative Unterschied, wenn an meiner Zahnbürste die Borsten 0,01 Millimeter länger sind? Wichtig wäre doch, dass wir sagen, wir wollen uns gesund ernähren, wir wollen uns vernünftig kleiden, wir brauchen ein vernünftiges Haus um uns herum. Dann sind doch viele Dinge schon erfüllt. Natürlich, man möchte auch reisen, seinen Horizont erweitern. Aber man kann in einer modernen Volkswirtschaft nicht herumlaufen und behaupten, die Bedürfnisse seien unendlich – und daran den ganzen Apparat ausrichten. Wirtschaftswachstum über alles? Stillstand ist Rückschritt? Das ist doch fatal. Wir brauchen Wachstum, ja, aber wir brauchen ein verändertes Wachstum, ein qualitatives, kein quantitatives. Wir leben nun mal nicht in einer Nachkriegszeit, in der alles in Trümmern liegt und wieder aufgebaut werden muss. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als kleiner Bub in Bayreuth durch die Ruinen lief. Gott möge uns davor bewahren, dass uns das noch mal passiert. Heute haben wir einen ganz beachtlichen Standard, es geht uns allen recht gut. Woher soll das weitere Wachstum kommen?
Wobei: Der Satz „Es geht uns allen recht gut“ gerät zunehmend ins Wanken, oder? Die Schere zwischen Arm und Reich geht doch immer weiter auseinander.
Wir kriegen es einfach nicht hin, den Reichtum, den wir haben, einigermaßen zu verteilen. Ich bin da ein Fan von Heiner Geißler, der fordert, die Hartz-IV-Empfänger aus dieser Bittsteller-Rolle zu befreien. Muss man denn wirklich erst das Pfötchen hochheben und brav hecheln, damit man vom Staat bekommt, was einem zusteht? Warum kann man nicht jedem einfach seine Grundversorgung wie ein Gehalt überweisen? Auf dieser gesicherten Basis könnte jeder sich qualifizieren, sich bewerben, notfalls in ein anderes Bundesland ziehen. Wir geben das Geld doch sowieso aus, wieso müssen wir es denn so würdelos machen? Wir nennen das sozial, aber wir sind doch ziemlich grausam dabei.
Tut es Ihnen als langjähriger VW-Manager eigentlich weh, dass dieses Etikett „Hartz IV“ an diesen Maßnahmen klebt, benannt nach dem VW-Personalvorstand Peter Hartz?
Doch, das tut weh. Peter Hartz war ja mal mein direkter Vorgesetzter, damals in Wolfsburg. Er hatte eigentlich vor, eine Reform zu erarbeiten. Da saßen hochrangige Politiker, Wirtschaftsberater, Gewerkschafter, Unternehmer mit am Tisch. Er war ja nur Sprecher dieser etwa 15-köpfigen Kommission, die verschiedene Vorschläge erarbeitet hat. Trotzdem nennt man das heute noch „Hartz IV“. Warum nennt man denn das Maßnahmen-Paket nicht „Schöder IV“, schließlich war der damals Bundeskanzler? Aber man hat das auf Peter Hartz personifiziert und dann so getan, als wäre der Mann angetreten, um die Menschen auszupressen. Das war aber überhaupt nicht seine Idee. Er wollte die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Und er wollte Methoden erarbeiten, wie man mit Ressourcen optimal umgeht. Nun hat sich aber dieser Begriff eingeschliffen, und es tut mir leid, dass dafür immer noch sein Name missbraucht wird. Er wollte nur Wege finden, um die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen.
Ist das immer noch unser zentrales Problem, die Arbeitslosigkeit?
Auf jeden Fall. Dazu noch ein anderer Gedanke: Wenn Sie 1000 Leute abbauen, dann entlassen sie diese Kräfte nicht nur aus ihrem Arbeitsverhältnis; Sie verzichten auch auf alle Ideen, die diese Mitarbeiter noch hätten haben können. Sie können doch nicht wissen, was die Leute noch im Kopf hatten. Vielleicht eine tolle Rationalisierungs-Idee, die Ihnen zehn Prozent der Fertigungskosten gespart hätte. Auch dieses Potenzial haben Sie mit der Entlassung abgebaut.
Man beschneidet also seine eigenen Zukunftschancen?
Genau so sehe ich das. Und: Sie zerstören ein soziales Gebilde, eine gewachsene Arbeitsgemeinschaft. Da hacken Sie einen Teil einfach weg. Das tut weh – auch bei denen, die bleiben.
Der Phantomschmerz der Zurückbleibenden....
Ganz genau: Soziologisch gesprochen bleibt da ein Phantomschmerz übrig. Es leiden die, die ausgegrenzt wurden, aber auch die, die noch dageblieben sind. Und was macht das Unternehmen, wenn es wieder Beschäftigte braucht? Man muss doch mal überlegen, wie lange es dauert, derartige soziale Strukturen wieder neu aufzubauen. Neue Mitarbeiter zu integrieren, dauert im Schnitt ein Jahr, in vielen Fällen sogar länger. Bis das alles wieder zusammenwächst, braucht es seine Zeit. Deshalb plädiere ich für intelligente Lösungen. Bei VW war das damals die Vier-Tage-Woche...
...für die der Konzern von Wirtschaftsexperten ausgelacht wurde...
1993 haben alle geschrieen: „Die bei VW sind verrückt, das ist der Tod des Unternehmens.“ Heute stelle ich fest: Flexible Tarifverträge haben jetzt viele. Sie schaffen Spielraum – nach oben und nach unten. Kurzarbeit ist eine Lösung. Oder man verteilt die Wochenarbeit, wie wir damals, statt auf fünf Tage auf vier. Dieses Instrument haben wir eine Zeit lang benutzt. 1995/96 haben wir dann die Arbeitszeit wieder angezogen. Wir haben diese schwierige Zeit überstanden, ohne in Wolfsburg 36.000 Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Unsere Belegschaft blieb intakt. Sie blieb loyal und motiviert, weil jeder wusste: Mein Unternehmen steht zu mir. Auch das – übrigens – war Peter Hartz. Aber so etwas wird leider schnell vergessen. Das war ein intelligenter Akt der Humanität, den man gar nicht hoch genug bewerten kann. Der Phantomschmerz wurde vermieden, und für die nächste Produktgeneration hatten wir immer noch unsere zuverlässigen Leute, motiviert und an höchster Qualität orientiert. Genau diese Identifikation mit der Arbeit ist es, neben ökonomischen Faktoren, die den sozialen Prozess in einem Betrieb unterstreichen. Man kann nur hoffen, dass die Unternehmen, die diese soziale Komponente würdigen, immer zahlreicher werden.
Auch weil der Weg in die andere Richtung immer mehr sozialen Sprengstoff birgt?
Natürlich. Wir geraten immer mehr in ein Klima der Ausgrenzung. Es könnte sich schon bald eine deutliche Gegnerschaft entwickeln zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keine Arbeit haben. Da muss man nicht groß philosophieren: Das wird keiner wollen. Also müssen wir alles dafür tun, dass unsere Systeme intelligenter und sinnfälliger werden. Wer bei Kindergärten, Schulen, Pädagogen spart, gefährdet unsere Zukunft. Wenn wir dagegen dafür sorgen, dass unsere Schulabgänger mit einer positiven Lebenseinstellung, mit Klugheit und Intelligenz und mit der Befähigung, sozial kompetent zu handeln, ins Berufsleben starten, dann gewinnen wir doch jeden Wettbewerb, Globalisierung hin oder her. Davon handelt mein Buch und das ist der Wunsch, den ich habe.
Herr Professor Keilhofer, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Rainer Maier.

ZUR PERSON: GÜNTHER KEILHOFER

Professor Dr. Günther Keilhofer wurde 1950 in Bayreuth geboren. Nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann und dem Fachabitur studierte er Betriebswirtschaft. Seine berufliche Laufbahn begann Keilhofer 1977 im Personalwesen der Triumph-Adler AG. 1993 trat er in den Personalbereich der Volkswagen AG ein. In Wolfsburg stieg er bis ins Top-Management des Konzerns auf. Am 1. August 1998 wurde Keilhofer zum neuen Geschäftsführer Personalwesen der Volkswagen Sachsen GmbH in Mosel bei Zwickau berufen. In seiner jetzt angelaufenen Ruhephase der Altersteilzeit widmet sich Keilhofer verstärkt der Ausbildung des Management-Nachwuchses. An der Westsächsischen Hochschule in Zwickau ist er zum Honorarprofessor für Personalmanagement am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften bestellt.
R. M.

BUCH-TIPP

Günther Keilhofer, „Ethik ist das bessere Rezept – Argumente für eine Veränderung“, Claus-Verlag, Chemnitz, 15 Euro.