Kunst und Kultur Der Lieblingsengel von Mutter Natur

Michael Thumser

Aberhundert kleine Zuschauer bejubeln eine Uraufführung auf der Luisenburg: Heidi, die Unschuld aus den Bergen, gewinnt die Herzen durch Herzigkeit.

 
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Wunsiedel - Auf den Bergen wohnt die Freiheit, und auf der Alm gibt's keine Sünd'. Kleinere und größere Sünder gibt es dort schon, aber letztlich hat jeder einen guten Kern. Noch gesünder als von Wurst und Käse lebt man hier von der guten Luft und vom ungetrübten Schein der Sonne, die gestern Vormittag, zur ersten, inoffiziellen Eröffnung des Luisenburg-Festspielsommers, wiederholt auch aus dem Fichtelgebirgshimmel über Wunsiedel lachte. Mitleid verdiente auf der Naturbühne allenfalls eine blinde Alte, für die es "nie wieder hell" wird. Oder vielleicht doch? Heidi, Titelheldin des am Mittwoch uraufgeführten Familienstücks, bringt wie ein Wunderkind Licht noch in die verschattetsten und schwärzesten Seelen.

"Das" Heidi, wohlgemerkt: So sagt man in der Schweiz. Dort erfand die Schriftstellerin Johanna Spyri mit dem unbedarften Mädel vor bald 140 Jahren eine der bis heute populärsten Kinderbuch-Gestalten der Weltliteratur. Mittlerweile muss einem Heidi wie aus der Zeit gefallen erscheinen: so rein wie ihre unversehrte Umwelt, arglos wie eins der Geißlein, mit denen sie herumtollt, unverdrossen fügsam und lieb. Heutzutage kommt ein Kind von solchem Schlag schwerlich auf Spielstraßen und Schulhöfen durchs Leben. Aber Maria Kempken, hüpfend wie ein Ball, wirbelnd vor Lebenslust, besinnt sich auf die verträumten Tugenden eines Engels auf Erden - und gewinnt die kleinen, aus Aberhundert Mündern jubelnden Premierenbesucher restlos für sich.

Auch Regisseurin Eva-Maria Lerchenberg-Thöny - die das Stück unterm Pseudonym Eva Toffol selbst schrieb - mag nicht am Nimbus des niedlichen Naturkinds kratzen. Allerliebst soll es die Herzen durch Herzigkeit erobern, und man staunt fast, dass es gelingt. Mit der Verspieltheit einer Unschuld vom Lande steckt die junge Aktrice quirlig Thomas Zigon als großäugigen, breit lächelnden Geißenpeter an, ebenso ihren Großvater, den Alm-Öhi, der sich bei Paul Kaiser knorrig hinter Griesgrämigkeit verschließt, um sich der energischen Enkelin bald umso inniger zu öffnen.

Zwischen die frischluftigen, mit den schrägfenstrigen Fassaden schiefer Hütten ausstaffierten Fichtelgebirgsfelsen passt der Stoff aus dem schweizerischen Graubünden bestens. Um freilich zu erfahren, wie untrennbar Heidi zu Granit und Gehölz gehört, muss die Lichtgestalt im fernen, dunklen Frankfurt schwer an Heimweh erkranken. Alles, was oben, dem freien Himmel und den Gipfeln nah, bildungsfern in unberührter Schöpfung sich abspielt, bietet die märchenhaft schöne Aussicht auf eine heile, gesunde Welt. Die Großstadt hingegen sieht in der verwandlungsfähigen Ausstattung von Jörg Brombacher (Bühne) und Eva Praxmarer (Kostüme) düster aus wie schlechtes Wetter: ein Gefängnis für freudlos Getriebene, enger Ort des Zwangs. Feldwebelstreng gebietet hier Fräulein Rottenmeier - Gudrun Schade als Giftspritze im Fischbeinkorsett - über einen treuherzigen Diener (Vladimir Golubchyk), ein zickiges Stubenmädchen (Verena Kollruss), einen überforderten Hauslehrer (Bernhard Meindl).

Unhaltbar überspitzt die Regisseurin den behaupteten Gegensatz zwischen verächtlicher Zivilisation und unberührtem Wald-und-Flur-Paradies - ein nicht mehr zeitgemäßer Bruch. Eine Brücke zwischen Idylle und Unterwelt bauen tierisch verkappte Kinderdarsteller: Auf den Luisenburggipfeln springen fünf possierliche Geißen in Lederhosen und Karohemden über Stock und Stein; und das graue Frankfurt mischt ein Kätzchen, natürlich ein graues, auf.

Am Ende versammeln sich Oben und Unten, die freien Bergler und die erlösungsbedürftigen Gäste aus der dumpfen Niederung, auf der Alm des Alm-Öhis zu Gesang und Tanz; denn als Musical - mit Musette- und auch schon mal balkanisch anmutender Musik von Haindling - firmiert die Produktion. Obendrein ergänzte die Regisseurin es mit einer Choreografie aus robusten Gebärden und stampfend-stiefelnden Schrittfolgen. Ein Versöhnungstanz; auch das feinste, fragilste Wesen der Aufführung nimmt daran teil: Carolin Waltsgott als kindlich-kleine Klara, magnetisch in ihrer Ausstrahlung aufs Anteil nehmende Gemüt. An den Rollstuhl ist die Ärmste gefesselt, doch selbst für sie hält die Bergwelt Befreiung bereit: Das verkümmerte Stadtkind erhebt und bewegt sich auf immer festeren Beinen, mirakulös genesen an Heidis Wärme und jener von Mutter Natur.

Beim Schlussapplaus verbeugt sich dankbar auch die zuvor blinde Alte: Uschi Reifenberger, jetzt mit offenen Augen, sozusagen sehend geworden. Ein Wunder kommt selten allein.

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Nächste Vorstellung: Sonntag, 15 Uhr.