In der Nachkriegszeit breiteten die Wunsiedler den Mantel des Schweigens über die Ereignisse. "Das Wissen um diese Gräueltaten war im Laufe der Jahrzehnte weitgehend in Vergessenheit geraten", sagt Karl Rost. Zwar sei am Volkstrauertag seit Mitte der 80er-Jahre auch an diese Opfer erinnert und zu einem Gedenken am Grabmal aufgerufen worden, aber nur wenige Wunsiedler hätten dies wahrgenommen. In den Jahrzehnten davor standen laut Rost und Seißer die eigenen Kriegsopfer im Mittelpunkt der Gedenkfeiern. "Zwar wurde der Opfer des Faschismus seit 1947 an einem eigenen Tag gedacht, aber bereits vier Jahre später kamen sie beim Gedenktag an die Kriegsopfer nicht mehr vor. Es ging nur um die eigenen Gefallenen, die Flüchtlinge, die zivilen Kriegsopfer sowie die Kriegerwitwen und -waisen."
Der Blick änderte sich erst 2009. Beim "Tag der Demokratie" stellten Rost, Seißer und andere geschichtsbewusste Wunsiedler Zeitzeugenaussagen vor. Diese hat vor allem Rost in einer langwierigen Recherchearbeit zusammengetragen. Unter anderem berichtete Arnold K., der 1945 13 Jahre alt und als Lehrling im Rathaus beschäftigt war: "An diesem Tag (Anmerkung: 31. August 1945) mussten alle Behördenmitarbeiter sich zu einem Zug in der Maximilianstraße sammeln. Die Ämter waren geschlossen. Etwa 100 Personen zogen über die Egerstraße zum Friedhof. Am Weg zwischen Kirche und Leichenhalle waren die Särge aufgebahrt. Die Wunsiedler mussten an den offenen Särgen vorbeiziehen. Der Gestank war fürchterlich, denn die Leichen lagen seit Mitte April nur notdürftig verscharrt im Zeitelmoos."
Es sind bedrückende Berichte, aus denen Karl Rost am Sonntagabend zitierte. Es ist menschlich, sich danach zu sehnen, nicht an die dunklen Geschehnisse erinnert werden zu wollen, sie zu verdrängen. Doch es nützt nichts. Grade heute ist es wichtiger denn je, sich vor Augen zu halten, wie schnell aus einer Demokratie (Weimarer Republik) das schlimmste denkbare Unrechtsregime werden kann, wie schnell aus harmlosen Bürgern Mörder und wie schnell aus Nachbarn Opfer, denen das Recht zum Leben abgesprochen wird, werden können. Karl Rost und Peter Seißer haben bei ihrem Vortrag eindringlich an das dunkle Kapitel der Stadtgeschichte erinnert.
"Die Gräber, vor denen wir heute stehen, symbolisieren Unfreiheit und das Fehlen von Grundrechten", sagte Bürgermeister Nicolas Lahovnik bei der Andacht am Wunsiedler Friedhof. Die Grundfesten der demokratischen Gesellschaft seien aber Respekt, Toleranz und Akzeptanz. Mit dem Blick zu den Ausschreitungen in Berlin werde klar, dass viele nicht wissen, was wahre Unfreiheit und Freiheit bedeuten. "Wenn Menschen Seite an Seite mit bekennenden Nazis, selbst ernannten Reichsbürgern und Rattenfängern mit Reichskriegsflaggen vor der Herzkammer unserer Demokratie, dem Parlament, demonstrieren, geben sie ihnen das Gefühl von gesellschaftlicher Mitte." So werde ganz deutlich, dass auch 75 Jahre nach dem Todesmarsch der KZ-Häftlinge das Gedenken und das Erinnern noch genauso wichtig sind wie jeher. M. Bäu./DTr