Herr Genazino, muss man befürchten, dass einer, der – wie der Held in Ihrem neuen Buch, Gerhard Warlich - seine Hose auf dem Balkon aufhängt, um dort ihre Verwesung zu betrachten, irgendwann in der Psychiatrie landet?
Nein. Das muss man nicht befürchten. Das ist ein harmloses Spielchen, das ein Mensch, der einen gewissen skurrilen Hintergrund hat, für sich zum Zeitvertreib erfunden hat. Das ist sicherlich nicht tauglich für ein Massen-Hobby, zweifellos nicht. Aber es muss ja nicht immer alles für alle tauglich sein. Hier würde ich also noch nicht so weit gehen, aber ich weiß was Sie meinen und das trifft natürlich auf andere Vorgänge in diesem Roman zu.
Traudl, die Freundin von Warlich, sagt ja, das mit der Hose war ihr schon unheimlich...
Ja, das hat sie dann zugegeben. Sie hat das im Grunde nicht tolerieren können, nicht richtig verstehen können. Während er geglaubt hatte, sie würde das ohne weiteres tolerieren können. Wie sich dann zeigt, war das nicht der Fall.
Wussten Sie bereits, als mit dem Schreiben anfingen, dass der Hauptakteur irgendwann in die Klinik eingewiesen wird? Oder hat sich das erst mit der Zeit entwickelt?
Mit dem Schreiben hat sich das nicht entwickelt. Es ist dann aber eine Entscheidung, die man, wenn man ans Ende des Buches kommt, zu treffen hat. Ich wusste lange nicht, ob der in eine Klinik kommen würde. Das habe ich mir offen gehalten. Er ist ja auch kein besonders schlimmer Fall. Er hat eine normale psychische Störung. Ich habe natürlich, wie Sie sich denken können, viel über das Thema gelesen. Und daher weiß ich, dass in Deutschland jeder fünfte Mensch irgendwann einmal an einer psychischen Störung leidet. Das sind gewaltig gestiegene Zahlen, und nicht nur in Deutschland. Das war vor fünfzehn, zwanzig Jahren noch völlig anders. Psychische Störung heißt also Anfälle von Depression, Anfälle von Autismus, Anfälle auch von Schizophrenie, also einer Aufspaltung des Bewusstseins, undsoweiter undsoweiter. Das kommt alles ephemer vor, die Leute werden also nicht daran so krank, dass sie für immer in die Klinik kommen, aber sie haben vorübergehende Störungen dieser Art. Das geht dann oft nach zwei, drei Wochen wieder vorbei. Auch der Held der Geschichte wird ja nach drei Wochen wieder entlassen und kommt zurück nach Hause. Wahrscheinlich wird er dauerhaft Arzneimittel nehmen müssen, als prophylaktische Maßnahme, dass so etwas nicht wieder auftritt.
Er darf ja auch während des Aufenthalts die Klinik verlassen...
Weil er eben kein so dramatischer Fall ist. Sonst wäre er auch in einer anderen Klinik. Aber das ist ja keine geschlossene Psychiatrie. Wer da mal reinkommt, der ist so schwer krank, dass er ohne Genehmigungen und Gutachten gar nicht mehr rauskommt.
Ihr Held ist auf der Suche nach dem Glück. Warum ist diese Suche für ihn so schwierig?
Sie ist ja gar nicht so schwierig. Er hat doch relativ viele Glücksmomente. Er hat sogar – wie ich behaupte – ein Talent für Glücksempfindungen. In Situationen, in denen viele, ja, die meisten Menschen, gar kein Glück empfinden. Stellen Sie sich die Situation vor, wo er da am Straßenrand sitzt und sieht die Ameise, die da in vollkommener Ahnungslosigkeit die Straße überqueren will. Da erfasst ihn schon ein Glücksmoment. Was ihm Probleme bereitet, ist natürlich eine gewisse Disposition zu psychischen Schwierigkeiten. Die hat er, das ist etwas, das sich immer häufiger zeigt. Die Sache mit der Hose ist natürlich ein Zeichen, völlig klar. Das deutet darauf hin, dass da noch härtere Sachen kommen werden. Besonders die Geschichte mit der Brotscheibe, als er seiner Jugendgeliebten anstatt die Hand ein Stück Brot in die Hand schiebt. Das ist natürlich dann schon – sagen wir mal – nicht mehr verstehbar. Das ist seine Disposition, der eine Faktor. Der andere ist sein reales Unglück im Leben. Vor allen Dingen, dass er mit einer akademischen Vorbildung wie sie heutzutage selten ist, keinen adäquaten Job hat finden können. Das belastet diesen Mann ja enorm. Das wirkt zusammen: Einerseits eine gewisse Disposition, andererseits reales Lebensunglück. Das ist übrigens empirisch häufig so, dass Menschen von psychischen Störungen betroffen werden, auf die diese beiden Voraussetzungen zutreffen. Also eine gewisse Hingeneigtheit durch Überempfindlichkeit. Das ist ja das unmedizinische Wort dafür, das auch im Roman häufig vorkommt: Überempfindlichkeit. So nennt er sein Leiden: „Meine Überempfindlichkeit.“ Und dieses reale Pech im Leben, dass einfach die berufliche Seite bei ihm nicht sich so gestaltet, dass sich darauf ein halbwegs zufriedenes Leben aufbauen ließe.
Braucht man in der heutigen Zeit überhaupt noch Philosophen?
Das ist eine gute Frage. Also: Man braucht sie, sozusagen, als Unterhalter. Als Unterhalter, die in den Medien arbeiten. Gelegentlich tauchen ja Philosophen im Fernsehen auf, wenn irgendwelche tieferen Fragen besprochen werden, auch aus dem familiären Umfeld, mit Beziehungsproblemen, undsoweiter undsoweiter. Da kommen zuweilen Geisteswissenschaftler zu Wort. Das ist praktisch das einzig verbliebene Berufsfeld, auf dem Philosophen noch dann und wann zum Zuge kommen. Aber viele arbeiten ja dann doch in verwandten Gebieten. In den Medien zum Beispiel, viele sind in Zeitungen oder in Verlagen, auch selbst beim Radio und beim Fernsehen. Und dafür braucht man sie natürlich in großer Zahl. Aber nicht ganz konvetionell, wie er sich das mal gedacht hat, als Katheder-Philosoph. Als jemand, der von einer Universität einen Ruf bekommt, die sagt, den muss man herholen, das ist ein berühmter Mann, deswegen kriegt er eine Professur. Das war seine – etwas infantile – Vorstellung von seiner Zukunft.
Traudl, seiner Lebensgefährtin, fehlt zu ihrem Glück ein Kind. Ist es dieser Kinderwunsch, der Wahrlich so bedroht, dass es in ihm diese große Verzweiflung auslöst?
Das kommt als Lebensmoment, als drittes, noch dazu. Nicht, dass der Faktor Kind jetzt eine Verzweiflung bei ihm auslösen würde. Sondern die Vorstellung, dass das jetzt so gefundene Gleichgewicht dadurch beeinträchtigt wird, sich verändert und in seiner Gestalt so stark umgebaut wird, dass jedenfalls er als überempfindlicher Mensch fürchten muss, dass er davon Nachteile haben wird. Die Traudl wird nicht mehr so viel Zeit für ihn haben, sie wird möglicherweise ihre Stelle aufgeben. Das wird sich ja nicht so leicht in sein bisher gelaufenes Leben einbauen. Das weiß er. Und davor fürchtet er sich. Vor diesem Umbau von Leben, der auch ihn betreffen wird. Das haben ja viele Männer, das ist eine unter Männern sehr verbreitete Angst. Übrigens auch unter Frauen, aber dort nicht so häufig. Frauen haben in solchen Situationen ja oft auch einen Mann, der das sozusagen auffängt. Das ist ja eine Verhandlungssache zwischen einem Paar, das man sagt: Wenn wir ein Kind bekommen, dann musst du eben die erste Zeit zu Hause bleiben, undsoweiter undsoweiter.
Er traut sich aber nicht, etwas dagegen zu sagen.
Ja, das stimmt. Er traut sich nicht richtig. Er hat Hemmungen und will natürlich auch nicht als Buh-Mann dastehen. Er weiß natürlich auch, um sieben Ecken herum, dass seine Haltung eigentlich eine Zumutung ist. Dass es völlig normal ist, dass eine Frau irgendwann ein Kind will. Und dass sie es natürlich dann will, wenn sie glaubt, sie habe jetzt den Mann dazu gefunden. Das weiß er auch. Nur wird er dann von seiner irrationalen Angst schon im nächsten Moment so stark überfallen. Rein abstrakt gedacht, hat er nichts dagegen. Er versteht das schon, er ist ja auch nicht dumm. Aber er hat davor Angst, wie das dann in die Wirklichkeit eingebettet wird.
Diese Ängste vor der Traudl offen legen, mag er aber auch nicht.
Nein, nicht so richtig. Die haben halt nicht so einen wunderbaren Austausch, wie man das bei den beiden eigentlich annehmen könnte. Sie können sich sehr gut verständigen, aber die Menge dessen, was eigentlich geklärt werden müsste, bleibt immer weit unter dem realen Gesprächsaufkommen. Nun gut, sie sind auch beide berufstätig, das heißt, sie sprechen nicht so viel miteinander wie vielleicht erforderlich wäre.
Mich hat der Verlauf der Geschichte beunruhigt, die Tatsache, dass Wahrlich immer verwirrter wird. Ist das von Ihnen mit Absicht so aufgebaut worden?
Ja. Das ist das psychische Erlebnis für ihn, diese steigende Flut dessen, was er nicht mehr integrieren kann. Die Arbeitslosigkeit, das Problem mit seiner Bildung und Traudls Kinderwunsch – das ist wie eine steigende Flut. Und er weiß nicht genau, wie er das bewältigen kann. Das ist ja in der einen Szene... Moment, ich weiß jetzt gar nicht genau, ob das überhaupt im Buch steht. Ich glaube, das habe ich wieder herausgenommen...
Das kommt also auch vor, dass Sie ganze Szenen wieder streichen.
Aber ja, gerade bei so einem Buch, das ja eine ziemlich abgezirkelte Sache ist. Da darf keine Seite zu wenig und keine Seite zu viel sein. Das funktioniert wie eine Mechanik. Die Faktoren, die die beiden Figuren bewegen, sind dauernd in Gang. Die Frau will ein Kind. Und der Mann fühlt sich genau davon beeinträchtigt. Deshalb habe ich auch nicht, was ich lange überlegt habe, den Schluss in der Klinik länger ausgebaut. Das wäre kein Problem gewesen. Aber ich wollte ja keinen Psychiatrie-Roman schreiben. Wenn ich diesen Teil noch stärker betont hätte, also vielleicht noch fünf, sechs Kapitel drangehängt, dann hätte das eine solche Schlagseite ergeben. Da lese ich jetzt schon die Kritiken, die gesagt hätten, das ist ein Psychiatrie-Roman. Das wollte ich überhaupt nicht. Mir kam es nicht auf die Darstellung der Psychiatrie an, sondern auf die Darstellung der Störung eines an sich funktionierenden Gleichgewichts zwischen zwei Leuten. Und darum, wie leicht es ist, ein solch eingespieltes Gleichgewicht aus dem Takt zu bringen. Das geht ja ganz einfach und ganz schnell. Diese Art Waage – einmal kommt im Roman auch das Wort „Schmerz-Waage“ vor -, bei der beide Partner zwar eine Menge auf dem Buckel haben, es aber immer noch ausgewogen ist. Sie kommen relativ gut damit über die Runden mit dem, was beide zu tragen haben.
Man kann sagen, dass dieser Warlich eigentlich im falschen Leben steckt. Er ist Philosoph, muss aber in einer Wäscherei den Geschäftsführer machen. Ist es aber heute nicht schon normal, dass Menschen im falschen Leben stecken?
Sie haben völlig recht: Das ist normal. Das ist absolut normal. Mich wundert aber, dass das sowohl in der Literatur als auch in den Medien nur eine so geringe Rolle spielt. Das ist sozusagen ein Thema, das weite Teile der Bevölkerung betrifft: Das falsche Leben. Ich warte auf Berichte im Fernsehen oder in Zeitungen – obwohl das manchmal was kommt, wenn auch sehr selten und, man muss es leider sagen, in der Regel auch unzureichend und nicht in der nötigen Tiefe. Die Konflikte, mit denen Menschen hier konfrontiert sind, werden hier kaum thematisiert und wenn, dann oft nur oberflächlich. Und auch in der Literatur wird das Thema viel zu selten aufgegriffen. Ich will jetzt nicht auf mein Buch verweisen, aber ich sehe momentan, außer diesem, nichts. Ich weiß nicht, warum das nicht aufgegriffen wird. Das ist doch ein Thema, das die Menschen wirklich bewegt.
Denken Sie, dass man im falschen Leben auch glücklich sein kann?
Wenn man eine gewisse innere Robustheit hat, dann ja. Wenn man nicht so stark festgelegt ist auf bestimmte Lebensentwürfe. Wenn man natürlich die Phantasie hat: Ich bin Philosoph und ich kann nur als Philosoph wirklich gut leben, dann sieht’s finster aus. Jemand, der sich so festlegt auf eine bestimmte Rolle im Leben, der ist gefährdet. Einfach, weil ihm die Möglichkeit fehlt, sich anzupassen. Das haben wir doch beigebracht gekriegt, das ist doch unser normales sogenanntes westliches Leben: Du musst auf Veränderungen rasch reagieren. Das ist sicher einer der Vorteile des abendländischen Menschen: Wenn es hier nichts mehr zu essen gibt, dann wandern wir weiter. Wenn es hier keine Arbeit gibt, dann wandern wir in ein anderes Land. Schauen Sie nur auf die riesigen Migrationsbewegungen im Europa der letzten dreißig, vierzig Jahre. Italien, zum Beispiel: Millionen von Menschen, die ihr Land verlassen haben, nur der Arbeit wegen. Auf dieser Flexibilität baut unser ganzes System und dieser Typus wird auch verlangt vom System. Wenn jemand nicht bereit ist, diese Anpassungsleistungen zu bringen, dann geht’s ihm schlecht. In diesem Sinne ist der Wahrlich nicht sehr typisch. Er ist überempfindlich, er passt nicht in das System hinein. Ein System, das solche Menschen nicht braucht, um es ganz hart zu sagen.
Tun Ihnen Ihre Hauptakteure manchmal leid, wenn sie von einem Unheil ins nächste geraten?
Ob sie mir leid tun? Das habe ich mich noch gar nicht gefragt... (Wilhelm Genazino überlegt.) Doch, manchmal natürlich schon. Aber: Bei mir überwiegt einfach die Neugierde. Was machen die? Und: Wie kann ich das darstellen? Mich interessiert einfach die Lage des Subjekts im 21. Jahrhundert in den Industriegesellschaften. Das interessiert mich. Wie überleben die Menschen? Was wird von Ihnen verlangt? Was geschieht mit ihnen, wenn sie das Verlangte nicht bringen? Wo enden die dann? Das ist so mein Untersuchungsinteresse, das kommt ja auch in früheren Romanen immer mal wieder vor. Das überwiegt sozusagen meine Einfühlung. Dass mir eine Romanfigur leid tut, das gibt es zwischendurch natürlich schon, wenn ich denke: Mein Gott, das ist auch wieder ein armer Hund. Trotzdem interessiert mich, was der jetzt macht. Und was macht seine Freundin oder seine Frau? Und wie kommen die überhaupt klar?
Sie lassen sich also von Ihren Figuren überraschen?
Ja. Ich war durchaus nicht sicher, dass die Traudl den Wahrlich plötzlich in die Klinik fährt. Ich hatte lange überlegt, dass die Traudl, die ja erheblich toleranter und dem Leben mehr zugewandt ist als er, sich damit arrangiert, mit diesen Merkwürdigkeiten ihres Lebenspartners. Vielleicht, dass es eine Auseinandersetzung gibt oder mehrere, dass sie auch Grenzen steckt. Dass sie sagt: „Die Hose habe ich gerade noch ertragen, aber, was ich jetzt höre, mit dem Brot, das geht zu weit! Das verstehe ich nicht mehr. Das kannst du mir nicht zumuten.“ Ich habe das lange erwogen, ob es auf dieser Ebene der Toleranz – oder der Nicht-Toleranz, je nachdem – zu einer Art Agreement kommt. Aber ich habe mich dann für die andere Lösung entschieden: Dass die Frau überfordert ist und entsprechend reagiert. Dass sie den Wahrlich einfach in die Klinik fährt, ohne Debatte.
Vielleicht sieht sie ja, dass er fachmännische Hilfe braucht...
Ja, das denke ich auch. Sie hat gesehen, dass sie da nicht viel helfen kann, dass sie da keine Mittel in der Hand hat, dass der Mann krank ist und man ihm helfen muss. Und, dass sie selber diese Hilfe nicht leisten kann.
Der Wahrlich will eine „Schule der Besänftigung“ gründen. Glauben Sie, dass es eine solche Institution braucht? Mit Vorlesungen zum „Aufbau des Glücks in glücksfernen Umgebungen“?
Ja, das ist ein heikler Punkt. Ich denke mal, so etwas könnten wir brauchen. Ich weiß nicht, ob es jemanden gibt, der so etwas wirklich machen könnte. Seriös, nicht auf der Ebene des Klamauks. Ich weiß nicht, ob es das geben könnte. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Menschen es brauchen könnten. Aber eben seriös, ohne falschen Anspruch, ohne die Gefahr, dass die Leute betrogen werden. Ich glaube schon, dass das als eine Art von Lebenshilfe funktionieren könnte, die die Menschen heute brauchen würden. Es ist ein Mangel, dass wir keine Form dafür finden, wie das geleistet werden könnte. Lebenshilfe als solche wird ja sofort diskriminiert. Da tauchen sofort die Kritiker auf, die sagen: „Das ist Kitsch“ oder „Das ist Volkshochschule“. In den meisten Fällen stimmt’s ja auch. Leute, die so etwas anbieten, sind eben oft unseriös, sind Scharlatane, die irgendwelche Bewegungskurse machen oder Mondspaziergänge oder was weiß ich. Es ist nicht seriös. Wie man es aber seriös machen könnte, ist noch unbekannt. Aber ich nehme an, dass sich das ändern wird. Weil das Bedürfnis danach da ist.
Warlich hat ja im Buch auch kein Glück mit seinem Vorschlag.
Ja, das wird ihm ja sofort im Kopf rumgedreht. Da wird ja gleich eine Pop-Akademie draus. Weil auch der Kulturreferent nicht weiß, was er sich darunter vorstellen soll. Das ist halt noch Neuland.
Was ist eigentlich für Sie eine typische glücksferne Umgebung?
Eine typische Glücksferne? Ja, unsere ganzen modernen, zivilisatorischen Anlagen. Diese trübsinnigen Büros, in die die Menschen morgens reingehen und abends total verschlissen wieder rauskommen. Und dann soll das Leben anfangen, dabei sind die total durchgenudelt von ihrem Job, der möglicherweise auch nicht das ist, was den Menschen Glück bringen könnte oder Glücksgefühle. Dann sollen die ihre Rolle als Vater oder Ehemann spielen. Da ist es doch keine Frage, dass sie das nicht können. Es müsste anders geregelt werden. Zum Beispiel das Projekt Halbtags-Leben, das ist ein Ansatz dazu. Natürlich heißt es da auch sofort wieder: Wer hat sich denn das ausgedacht? Weil man das misst an unseren industriellen Erfordernissen. Da heißt es sofort: Ja, du lieber Gott, was soll denn das? Aber es gibt Ansätze in anderen Ländern. Zum Beispiel in Schweden: Da haben Angestellte einen oder zwei sogenannte Ekel-Tage im Monat. Da haben Angestellte das Recht, wenn sie es nicht mehr aushalten in ihrem Job, zwei Mal im Monat einfach wegzubleiben, ohne Entschuldigung, ohne Erklärung. Man darf sie nicht fragen am nächsten Tag: Waren Sie krank? Was war mit Ihnen los? Das ist dort im Gesetz festgeschrieben. Das ist auch ein Zeichen dafür, wie es mit den Menschen steht im heutigen Arbeitsleben. Und in diese Richtung geht auch das Halbtags-Leben. Das ist natürlich utopisch, völlig klar, aber das ist eben etwas, was der Profession dieses Mannes entspricht: Auch etwas Utopisches, etwas total Illusionäres zu denken.
In welcher Umgebung kann sich Glück am besten entwickeln?
Um alte Philosophen zu bemühen: Zu einem halbwegs glücklichen Leben gehört eine weitgehend nicht entfremdete Arbeit und eine weitgehend nicht entfremdete Umgebung. Wenn Menschen in irgendeiner schrecklichen Wohnsiedlung am Rande von Paris oder Frankfurt in entsetzlichen Blocks leben, wo man nicht aus dem Fenster gucken kann, weil man nur andere Blocks sieht, dann muss ich mich nicht wundern, wenn diese Menschen dort melancholisch werden. Das ist doch eine Art von Psychiatrisierung. Das ist so ähnlich, als wären sie schon im Krankenhaus. Sie sind zwar zu Hause, aber eigentlich haben sie das Gefühl, sie wären in einer Umgebung, die ihrem Leben, ihren Wünschen überhaupt nicht entgegen kommt. Diese strukturelle Psychiatrisierung - dass wir also alle schon in den Verhältnissen drin stecken, ohne die dafür erforderlichen Krankheiten aufweisen zu können – das ist der dramatische Punkt. Viele Menschen fühlen das: Eigentlich leben und arbeiten sie in Zumutungen. Aber sie können das nicht sagen, weil es dazu für sie keine Berechtigung gibt. Man würde sich über sie wundern. Das weiß jeder, also hält auch jeder die Klappe. Es geht doch darum, den Job zu sichern. Das ist doch die Religion unserer Tage. Dafür wird alles in Kauf genommen. Auch von Frauen: Selbst wenn sie schwierige Verhältnisse zu bewältigen haben, mit Kind halbtags arbeiten. Weil das in unserer Gesellschaft oft immer noch ein unglaublicher Zirkus ist, wenn eine Frau außer ihrer Arbeit noch ein Kind hat. Das ist ein enormer Organisationsaufwand und es kostet so viel Geld. So viel, dass von dem, was die Frau verdient, kaum etwas übrig bleibt. Da muss sie eine Babysitterin bezahlen, da muss sie ihr Kind da und dort hin fahren, dafür braucht sie wieder viel Zeit, also muss sie früher aufstehen, dafür aber eine Stunde länger arbeiten, um das wieder reinzuholen. Das alles – für fast nichts. Nur damit alle Unruheherde des Alltags einigermaßen abgestillt werden können. Das meine ich mit Psychiatrisierung des Alltags. Unser Alltag ist an sich schon verrückt. Er muss nicht noch durch eine Krankheit verrückt gemacht werden. Nur relativ robuste und unempfindliche Menschen, die irgendwo eine Schicht haben, eine Art Panzerung, die es ihnen erlaubt, das irgendwie auszuhalten. Sich Techniken zu erfinden, um über die Runden zu kommen, ohne sich allzu sehr malträtieren zu lassen.
Ist das die Lösung, dass man sich abschottet und versucht, nur sein eigenes Ding zu machen?
Nicht unbedingt. Es hat ja mal Zeiten gegeben, in denen die Menschen auch in sozialen Belangen eine größere Vernetzung hatten. Ich erinnere mich, als ich selber jung war, also in den Sechziger Jahren, da gab es diese Kinderladen-Bewegung. Ich war selbst verheiratet, hatte zwei kleine Kinder – und plötzlich war man in Kontakt mit einer großen Anzahl in ähnlicher Situation lebenden Menschen, mit denen man sich austauschen konnte, mit denen man sich gegenseitig helfen konnte. Das war nicht die Lösung, aber es war doch auf dem Weg zu einer solchen. Heute ist das doch wieder völlig weg. Heute haben wir den Einzelkämpfer, der für jedes Ei, das er legen will, seine eigene Möglichkeit suchen muss. Jeder weiß, welch ein großer Aufwand heute nötig ist, um ein relativ einfaches Problem handlebar zu machen. Dieses Einzelkämpfertum ist natürlich Gift für die Menschen, die in diesen Situationen überleben müssen.
Gibt es Länder, in denen es besser läuft?
Ja, natürlich. Die nordischen Länder sind da Vorreiter, nicht in allen Situationen, aber doch sehr oft. Die Fürsorge gerade für berufstätige Mütter ist dort erheblich besser, die können auf viel größere Angebote des Staates zurückgreifen. Nicht so, wie bei uns, wo das Subjekt, der Einzelne, sich zu einem Frontkämpfer oder einer Frontkämpferin verwandeln muss, um den für sie oder ihn einzig möglichen Weg zu finden. Auch in Frankreich ist es besser. Das kann ich jetzt nur so generell sagen, was ich allgemein so höre. Es ist wohl so, dass es in Deutschland mit am stressigsten ist. Wir haben hier eben, wie jeder weiß, sehr auf Ökonomie und Umsatz ausgerichtete Betriebe, die alles andere vernachlässigen. Es ist ja schon ein Riesen-Fortschritt, wenn bei uns ein Großbetrieb einen Kindergarten einrichtet. Dabei ist das doch das Allerschlichteste, was man sich denken kann. Dass ein Riesenbetrieb mit fünfhundert oder mehr Beschäftigten, der sieht, da arbeiten Frauen mit kleinen Kindern, das Naheliegende tut und einen betriebseigenen Kindergarten aufmacht. Es ist immer noch eine Seltenheit, dass es das gibt. Das gilt nach wie vor als Sensation.
Ich habe den Eindruck, dass Sie ein ganz scharfer Beobachter sind. Ist das eine Angewohnheit von Ihnen, dass Sie allen kleinen Dingen hinterher spüren?
Nicht allen. Dann würde ich, glaube ich, auch verrückt werden. (Wilhelm Genazino lacht.) Aber natürlich interessieren mich kleine Sachen. Und: Je kleiner, desto besser. Weil sie denjenigen, der sie sieht, individuieren und persönlich machen. Jemand hat etwas gesehen und jemand kann mit diesem von ihm Entdeckten eine Art Beobachtungsszene aufbauen und damit auch ein Daseinsgefühl, meistens sogar ein gutes Daseinsgefühl. Denken Sie an die Szene im Buch, wo die beiden ins Theater gehen. Der Mann entdeckt dabei zufällig dieses Mädchen, das seinen Hund kämmt. Das ist jetzt nichts Besonders. Aber, dass es das gibt und was sich daraus ergibt, ist besonders. Das Kind sieht, dass ihm da jemand wohlgefällig zuschaut, und wiederholt daraufhin die Verschönerung des Hundes. Was wiederum dem Mann gefällt. Also: Das sind doch Glücksgewinne, die man eben auf eine solche Weise selbst ins Leben rufen muss, sonst geschehen sie nicht.
Aber man muss sie auch sehen können, man muss sie mitbekommen...
Ja, und sich auch auf etwas einlassen können. Man muss auch mal etwas beobachten können, wo gar nichts los ist. Wo nichts geschieht und wahrscheinlich auch nichts geschehen wird. Damit muss man spekulieren können. Vielleicht geschieht ja doch etwas. Und wenn nichts geschieht, ist es auch nicht schlimm. Ja, jetzt rede ich selber schon, als wäre ich in der „Schule der Besänftigung“. (Wilhelm Genazino lacht.) Aber Sie sehen daraus: Ich habe mich doch schon sehr ausführlich mit dem ganzen Thema beschäftigt.
Manche Kritiker nennen „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ Ihr bestes Buch. Macht Sie das glücklich?
(Wilhelm Genazino lacht.) Das ist eine interessante Frage. (Genazino überlegt.) Nein. Nun gut, mich macht das Schreiben sowieso glücklich, völlig klar. Und mich macht eigentlich jedes Buch glücklich, wenn es zu Ende ist, und ich das Gefühl habe, es hat geklappt und es funktioniert irgendwie, natürlich mal besser und mal weniger gut. Aber eigentlich bin ich – ohne, dass ich jetzt arrogant wirken will – auf solche Zusprüche der Kritik zum Glück nicht angewiesen. Es würde mich auch nicht irritieren, wenn die Leute schreiben würden, es sei das schlechteste Buch von Genazino. Das stimmt genau so wenig. Auf diese Verlautbarungen muss man einfach mit einiger Distanz reagieren. Aber Sie haben Recht: Das habe ich jetzt sogar schon öfter gelesen, in mehreren Zeitungen. Doch ich habe auch das Gefühl, dass die untereinander abschreiben. (Wilhelm Genazino schmunzelt.) Ich glaube einfach nicht daran, dass es mehrere Leute gibt, die so etwas einstimmig empfinden. Ich weiß nicht, wo es zuerst stand, in der FAZ oder so? Aber was in der FAZ steht, hat so eine starke Wirkung, dass die Kollegen – nicht alle natürlich, aber da und dort - sagen, dass muss ich jetzt übernehmen, das schreibe ich auch so. Und schon steht so etwas zum zweiten und zum dritten Mal irgendwo in der Zeitung. Um es kurz zu machen: Ich glaube nicht, dass dieses mein bestes Buch ist.
Werten Sie Ihre Bücher überhaupt selbst?
Nein. Ich wüsste das gar nicht. Das verändert sich ja auch mit dem Lebensalter. Mit dreißig hat man einen anderen Blick auf das von einem selbst gelegte Ei als mit sechzig. Dann relativiert sich das und verschiebt sich natürlich auch. In späteren Lebensjahren sind einem andere Dinge einfach näher und man sieht, wie kurzfristig die Perspektive war, die man als dreißigjähriger Autor hatte. Das ist alles sehr auf Durchlauf und Veränderung hin angelegt. Also unterlässt man solche Urteile. Außerdem gibt es bei mir sowieso noch zwei verschiedene Pole: Es gibt ja nicht nur den sozial engagierten Roman, wie jetzt wieder mit dem glücksfernen Glück. Sondern es gibt auch diese andere Richtung, den Kunstroman, wo es nur um den schönen Text geht. Da spielt sich nichts ab von Engagement oder Interesse fürs Gesellschaftliche oder irgendwelche Problematiken zwischen den Menschen oder in den Familien allgemein. Da sind Leute, die machen schöne Reisen... Mir fällt gerade „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ ein, ein Roman, der 1989 erschien: Da ist ein kunstinteressiertes Liebespaar, die fahren nach Paris, dann nach Amsterdam, von dort nach Wien, gehen dort in die Museen, haben überall nur Kunst im Kopf. Da wird nicht erörtert, wo die eigentlich das Geld dazu her haben. Das bleibt außen vor. Der Kunstroman interessiert sich nicht für diese Fragen. Da sind Brigitte und Heinz, die besteigen morgens einen Zug und fahren nach Wien. Da gehen sie in ein Hotel, am nächsten Morgen dann in ein Museum. Dann wieder ins Hotel, wo sie sich lieben und sich aneinander freuen. Und dann fahren sie weiter. Das ist das, was man „la-pour-la“ nennt. Also so ein frei schwebendes Projekt, das nur schön sein möchte. Sonst nichts.
Melancholie ist eine Stimmung, die sich durch viele ihrer Bücher zieht. Sind sie selbst ein melancholischer Mensch?
Oh, bin ich selbst ein melancholischer Mensch? (Wilhelm Genazino überlegt.) Ich glaube nicht. Ich bin natürlich melancholischer Gefühle fähig. Das ist klar. Aber das ist nicht einmal dominant. Ich halte mich selber für sehr glücksfähig. Und natürlich auch fähig vieler anderer Gefühle, selbstverständlich auch der Melancholie. Das kann ja gar nicht ausbleiben. Ich habe sowieso das Gefühl, ab vierzig strömt das melancholische Lebensgefühl massiv in das menschliche Leben ein. Darauf muss man, wenn’s geht, irgendwie gefasst sein. Das wird ja auch in den Medien nicht behandelt. Stellen Sie sich mal vor, was los wäre, wenn so etwas mal gesagt würde. Im Gegenteil: Die Jugendlichen werden darauf vorbereitet forever young zu sein. Da soll keine trübe Minute plötzlich das Leben verfinstern. Niemals. Im Gegenteil: Das Leben ist da eine endlose, ununterbrochene Party. Diese Lebensdarstellung in den Medien war ja noch nie so krass wie in den letzten Jahren. Ich bin da oft fassungslos. (Wilhelm Genazino lacht.)
Was ist für Sie Glück?
Ach, da gibt es viele, viele Möglichkeiten. Ich habe natürlich ein Riesenglück, das viele Menschen nicht haben: Ich habe eine Arbeit, die ich liebe. Das ist überhaupt nicht zu überbieten und gar nicht zu überschätzen. Glück ist, dass ich nicht das Gefühl habe, ich sei im falschen Leben. Das zweite Glück ist, dass ich mit dem richtigen Leben auch noch Erfolg habe. Dass andere Menschen das auch noch honorieren, dass ich davon auch noch leben kann. Das kann man schon fast gar nicht mehr aussprechen, wie viel da auf einen Schlag zusammenkommt, von den Details ganz abgesehen. Aber die Grundelemente stimmen: die richtige Arbeit, die nötige Anerkennung. Es reicht ja nicht, dass man nur die richtige Arbeit hat und keiner will das wissen. Schon ist man im Unglück. Man muss auch in einer Umgebung sein, die das honoriert. Das sind also schon Faktoren, die mich der Meinung sein lassen, dass ich wohl glücklich bin.
Waren war denn der letzte Glücksmoment für Sie?
Jetzt gerade hier?
Ja.
Das war wohl, als ich im Zug saß und hierher gefahren bin. Das ging mir aber schon öfters so. Es ist diese Landschaft. Mittelbayern. Gerade jetzt, mit diesen gelben Rapsfeldern und dazu das helle wunderbare Grün. Der Zug gleitet langsam dahin, fast geräuschlos. Und man denkt: Das ist doch unglaublich schön, dass man heutzutage noch durch eine so langanhaltend schöne Welt fahren kann. Da dachte ich: Das ist wunderbar, dass ich das gerade jetzt erleben darf. Obwohl ich auch schon im Winter hier war, und da hat es mir auch schon sehr gut gefallen, wenn diese Hügellandschaft dann in diesen wechselnden Weiß- und Grau-Tönen daliegt. Das sieht auch sehr gut aus. Dann bedauere ich, dass ich nicht male. Ich habe dann ein großes Bedürfnis, das auch nachahmen zu können, als Artefakt, als Kunstwerk. Und hier kommt dann sofort wieder das melancholische Moment hinzu, nämlich die Einsicht: Nein, es ist dir nicht gegeben, dieses nachzuahmen. Es muss genug sein damit, dass du es jetzt bemerkst, dass es dir gefällt, dass es dein Lebensgefühl jetzt hebt. Du kannst es nicht verewigen und das Gefühl wird dann wieder weggehen. Morgen oder übermorgen hast du es noch einmal, wenn du mit dem Zug die selbe Strecke zurückfährst. Aber dann ist es für eine Weile wieder weg. Damit muss man leben, so ist das eben. Das schmerzt mich bereits wieder. Ich bin heute schon hier herumgelaufen und habe nach Fotobänden gesucht, weil mich das so gejuckt hat. Aber die waren alle nicht sehr schön. Also: Mein eigenes Anschaugefühl war dann doch besser als die Bücher. Die Bücher kommen nicht an das heran, was ich empfunden habe. Also auch hier wieder eine kleine melancholische Eintrübung: Die Welt, die mir gefällt, so, wie sie mir gefällt, gibt es nicht in einem Buch. Aber das ist ja dann auch wieder gut, dass man für sich einen kleinen Vorsprung hat, von dem man sagt: Die Abbildung kann diesen Vorsprung nicht einholen. Das ist meine persönliche Errungenschaft, ein Mehr davon gibt es nicht.
Ich führe jetzt bald ein Gespräch mit einem Glücksforscher. Was würden Sie einen solchen Experten fragen?
Glücksforscher? Ich würde fragen, bei welchen Situationen er annimmt, dass sie glücksträchtig sind. Ob das wirklich, sagen wir mal, der Tag der Hochzeit das ist. Das ist ja auch ein Klischee, dass man endlos in Zeitungen und Illustrierten wiederlesen kann. Von dem die Frauen sagen - erstaunlicherweise sagen das fast nur Frauen, die Männer nicht, die halten sich betreten zurück – aber die Frauen sagen: „Das ist der glücklichste Tag meines Lebens.“ Ich bin fassungslos, wenn ich das lese. Aber ich denke, die Frauen plappern da nur ein Klischee nach. Die wissen doch gar nicht, dass das der glücklichste Moment ihres Lebens sein wird, die fangen doch gerade erst an. Wie können sie so eine fantastische Behauptung riskieren? Die sind noch so jung und reden schon so einen Stuss übers Glück. Aber wahrscheinlich ist es doch ein Glücksmoment, denn nur in solchen Glücksmomenten darf man solchen Stuss reden. Das Glück ist sozusagen auch die Erlaubnis, völlig haltloses Zeug daherzuschwätzen. Und alle nicken und sagen: „Ja, genau.“ (Wilhelm Genazino lacht.)
Aber für einen Erzähler ist das Unglück ergiebiger?
In der Regel ist das tatsächlich so, dass das Unglück ergiebiger ist. Weil man dann fragen und forschen kann: Wie ist denn das gekommen? Die Anfangssituation war doch auch zunächst mal ein Glück oder zumindest eine Glücksfantasie. Und dann hat sich das verwandelt und verändert in sein Gegenteil. Wodurch? Das Glück ist ja nun, wie jeder weiß, von einer quälend kurzen Dauer. Das ist ein kurzer Moment und durch diese Kürze schon fast beleidigend. Eine Sekunde oder eine Abfolge von Sekunden oder, wenn’s hochkommt, mal eine halbe Minute. Und dann verschieben sich die Gewichte bereits wieder und man muss seinem Glück bereits wieder hinterherschauen und sagen: Eben war es noch da, jetzt zieht es wieder von dannen. Deswegen ist dieses Glück so schwer zu beschreiben, weil es zu kurz dauert und sich ganz schwer fassen lässt. Es sind Momente der Einbildung, oft auch fast schon des Wahns. Und der Überschätzung von etwas, dann Glück hat ja auch immer etwas mit Überschätzung zu tun. Dass man einen Menschen überschätzt. Oder eine Stadt, in der man gerade lebt. Oder seine Kindheit. Wie auch immer. In dem diese Überschätzung dann abgearbeitet wird, normalisiert sich das Leben und das Glück in der Überschätzung schwindet. Das ist schon ein sehr interessanter Vorgang, ich nehme an, einer der interessantesten im menschlichen Leben: diese Transformation zu beobachten.
In Ihren Büchern spielen alltägliche Helden eine große Rolle, die sich irgendwie durchwursteln müssen. Reizt es Sie nicht, auch mal über ganz außergewöhnliche Menschen zu schreiben, die Abenteuer erleben, die außerhalb des Alltags stehen?
Nein, das reizt mich eigentlich nicht. Das ist mir zu gesucht. Und es ist mir auch zu klischeehaft. Ich verstehe Menschen auch nicht, die ein Abenteuer suchen, weil sie darin etwas Besonderes sehen. Wie dieser Bergsteiger, Reinhold Messner: Da habe ich neulich wieder einen Film gesehen über einen Gipfel, den er erklommen hat, den Nanga Parbat oder weiß ich was. Dann steht er da oben und redet darüber, dass sich jetzt ein Lebenstraum für ihn erfüllt hat. In seinem Bart bildet sich Eis und die Augenbrauen sind auch vereist, er kann kaum sprechen. Und ich denke: Entweder ist das der größte Selbstbeschwindler, den es gibt. Oder er ist ein Schlawiner, was ja auch möglich ist. Aber er kann mir doch nicht weißmachen, dass das jetzt das Glück sei, dieses Abenteuer. Das glaube ich ihm nicht. Da stecken andere Motive dahinter. Natürlich will er sich als Sportler herausfordern und etwas tun, was bisher noch keiner erreicht hat. Er will also die Prämien dieser besonderen Leistung erhalten und dafür den Beifall der anderen. Das ist ja auch alles legitim. Aber dann soll er es nicht Glück nennen. Das ärgert mich fast ein bisschen. Soll er doch ehrlich sagen: „Ich bin der Herr Messner und ich möchte ins Fernsehen kommen. Ich möchte, dass die Welt mir applaudiert, weil ich wieder so ein Riesenmonster von hinten bestiegen habe und nicht abgestürzt bin. Dafür möchte ich, bitte sehr, Beifall kriegen. Und zwar eine Menge.“ Das verstehe ich und das ist dann auch völlig in Ordnung. Das machen ja fast alle Sportler, die ihre Höchstleistungen erbringen, weil sie dadurch den Beifall der Gesellschaft kriegen. Und darin liegt dann ja auch ein Glücksmoment: Wenn diese Strategie klappt, wenn der Sportler es tatsächlich schafft, eine Riesenleistung zu erbringen und der Beifall kommt dann auch, dann freut sich der arme Mensch natürlich. Sein Kalkül ist aufgegangen: Er hatte Glück, er konnte die Leistung erbringen und es ist eingetroffen, was er sich davon versprochen hatte. Er kommt ins Fernsehen und wird beklatscht und in Talkshows eingeladen. Der ganze Zirkus geht los – und das ist auch eine Art Folgeglück, Ableger des Originalglücks, die im Nachlauf noch stattfinden. Außerdem verdienen die Leute damit noch Geld. Ich gehöre ja auch dazu: Ich freue mich natürlich, wenn ich ein Buch fertig kriege, wenn es gut rezensiert wird. Dann werde ich eingeladen zu Lesungen. Dann kommt dann und wann eine nette Frau und will ein Interview mit mir machen. Das freut mich auch, das finde ich wunderbar. Insofern kann man das nicht kritisieren. Das ist nun mal der menschliche Drang und es ist auch gut, dass es ihn gibt. Und es ist schön, dass Menschen tatsächlich dann und wann Glück haben und es alles so kommt, wie sie es sich gewünscht haben.
Viele Menschen empfinden mit Ihren Büchern Leseglück. Welche Bücher bereiten Ihnen Leseglück?
Ach, viele. Da gibt es eine Menge. Leider werden es immer weniger, weil ich ja immer älter werde und die guten Sachen inzwischen gelesen habe. Es gibt Engpässe. Aber natürlich gibt es große Werke. Das ist jetzt gar nicht sonderlich originell, weil die von vielen geschätzt werden. Also: Der ganze Kafka, natürlich. Der ganze Beckett. Die ganze Virginia Woolf, eine Autorin, die bei uns immer noch unterschätzt wird. Oder ein wunderbarer Italiener, den man bei uns auch kaum kennt: Italo Svevo. Überhaupt schätze ich viele ausländische Autoren, aber auch deutsche. Ich bin ja von früher Kindheit an ein Leser. Die Literatur, mit der ich aufgewachsen bin - also die deutsche Nachkriegsliteratur mit Böll, vor allen Dingen, mit Ingeborg Bachmann, Paul Zehlan und viele andere – die haben mich auch beglückt. Ich dachte da ganze Abende lang, dass es mehr vom Leben gar nicht gibt, als teilzuhaben an diesen Texten und sich vorzustellen, dass man eines Tages etwas machen kann, was dem ähnelt. Schon das war eine Glücksinszenierung. Das Projekt, dass man das, was einen so beeindruckt, selber versuchen wird. Es ist bereits ein Glück, dass man dieses Ziel für sich gefunden hat. Egal, ob jetzt etwas dabei herauskommt, ob es überhaupt klappt oder ob es schief geht. Es gibt ja zahllose Möglichkeiten, wie so etwas ausgehen kann. Aber auch, wenn es nur halb geklappt hätte, wäre es schon gut gewesen. Insofern habe ich wohl in der Tat Talent, mir diese Glücke zu besorgen, die dann auch das bringen, was man sich von ihnen erhofft.
Sie haben Kafka genannt. Ist das für sie ein Vorbild beim Schreiben?
Nein, das kann man nicht sagen. Das wäre ja auch fatal, denn Vorbild schließt ja Nachahmung ein. Und Kafka kann man- zum Glück – nicht nachahmen. Wenn das möglich wäre, würde er ununterbrochen nachgeahmt, von allen möglichen Leuten in allen möglichen Ländern. Aber es ist diese Magie, die Kafka zu Stande bringt, diesen Symbolismus und all die anderen Sachen, die so extrem seine Erfindung sind. Unkopierbar. Das merkt man relativ schnell. Es gibt ja einige Autoren, die das tatsächlich probiert haben. Aber auch die haben gemerkt: Das führt in den Nebel und in die Irre, es hat keinen Sinn. Ich hatte das nie probiert. In dem Alter, in dem ich meine heftigste Kafka-Phase hatte - da war ich noch relativ jung, so um die zwanzig rum – war ich selber noch kaum richtig gebacken. Ich habe zwar für Zeitungen geschrieben und das war auch alles recht in Ordnung. Dass da eines Tages eine Literatur kommen könnte, das war zwar gewünscht und intendiert. Aber real war davon noch nichts da. Ich stand zu vielen Autoren in einem Bewunderer-Verhältnis. Was auch wunderbar ist. Das war nicht nur Kafka, da müsste ich viele nennen. All das hat große Wirkung gehabt, als Rezeption von etwas, wie es gehen könnte. Und die Hoffnung, dass irgendwann zwischen all diesen Möglichkeiten meine eigene liegen wird. Ich wusste: Wo das sein wird, liegt im Dunkeln und ich werde es vielleicht nie sehen. Aber das muss eben herbeigelebt werden, ob es klappt oder nicht.
Wie wichtig ist in Ihren Büchern Ironie?
Ganz wichtig. Natürlich. Weil Ironie eine Abstandshandlung ist. Wenn einem etwas auf die Nerven geht, wenn sich Leute selber zu wichtig nehmen und einen schon richtig beeinträchtigen mit ihrem komischen Gehabe, dann kann ich mich mit Ironie schützen. Wenn ich sie äußere, geht manchmal derjenige oder diejenige, die mich nervt, auch sofort auf Distanz. Weil sie merken: Holla, hier klappt das nicht. Das ist eine ganz gute Methode, um mit solchen Unverträglichkeiten und Zumutungen fertig zu werden. Außerdem hat man auch noch die Möglichkeit, sich durch Ironie ein wenig von der Realität entfernen kann.
Das Gespräch führte Andrea Herdegen.
ZUR PERSON: WILHELM GENAZINO
Der 66-jährige Schriftsteller ist einer der bekanntesten und bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Für sein Werk wurde der Frankfurter vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Theodor-Fontane-Preis 2003, dem Georg-Büchner-Preis 2004 und dem Heinrich-von-Kleist-Preis 2007.
Der Akademiker mit Abschlüssen in Germanistik, Soziologie und Philosophie hat Theaterstücke, verschiedene Reden und Essays, insbesondere aber ein äußerst umfangreiches Romanwerk veröffentlicht, zuletzt in diesem Frühjahr „Das Glück in glücksfernen Zeiten“. Der internationale Durchbruch gelang ihm 2001 mit seinem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“.
Nach Essen, Paderborn und Frankfurt wird Genazino in diesem Sommer an der Universität Bamberg mit Übernahme einer Gast-Professur einige Abendvorträge halten, die auch für die Öffentlichkeit zugänglich sind: am 2., am 9. und am 16. Juli, jeweils um 20 Uhr. Weitere Informationen im Internet unter www.uni-bamberg.de.