Herr Tschinag, Sie haben rund 30 Bücher geschrieben, obwohl Ihr Volk keine Schriftkultur hat. Was bedeutet es für Sie zu schreiben?

Ich bin der erste Schriftsteller einer schriftlosen Nation und ich muss das, was sich angesammelt hat in der langen Geschichte des Volkes, den Leuten der Außenwelt berichten.

Haben Sie deshalb zu schreiben begonnen, um Ihrem Nomadenvolk ein bleibendes poetisches Denkmal zu setzen?

Genau so ist es. Sie haben es auf einen Nenner gebracht.

Sie sind Mittler zwischen Deutschland und der Mongolei. Sie verbringen mehrere Monate im Jahr in beiden Ländern. Gibt es etwas, was Sie im jeweils anderen Land vermissen?

Ich lebe ständig in Sehnsucht. Aber das ist ja für einen Künstler genau das Richtige. Wenn ich in Europa bin, dann sehne ich mich nach der Steppenluft, nach der Ruhe und dem einfachen Leben. Und wenn ich in der Steppe bin, dann sehne ich mich nach der Ordnung, nach dem Wohlstand, nach der Sauberkeit, nach dem fließenden Wasser. Wenn man in Deutschland schwitzt, braucht man nur unter die Dusche zu gehen - alles ist da.

Sie lieben das entbehrungsreiche Nomadenleben. Können Sie sich trotzdem in einer hektischen westlichen Großstadt wohlfühlen?

Eine Zeit lang. Das ist ja ein Spiel mit sich selbst. Der Schamane und der Dichter, überhaupt der Künstler, ist ja ein Mensch, der sich freiwillig Torturen ausgesetzt hat. Und ich fühle mich immer wohl, wenn ich im Äußersten stecke. Nicht der Durchschnitt ist das, wonach ich suche.

Haben die Menschen im Westen verlernt, wie man ein glückliches Leben führt?

Danach sieht es sehr aus. Obwohl sie alles haben, was der Mensch eigentlich braucht. Sie haben ja auch Dinge, die der Mensch nicht braucht. Das ist es wohl, warum sie so unzufrieden sind. Aber Glück kann man ja unterschiedlich definieren.

Einfacher leben, entschleunigen - Wie geht das?

Das wird schon noch kommen. Europa und Amerika haben ja jetzt eine Höhe erreicht, die sehr zweifelhaft erscheint, und viele Menschen haben angefangen, umzudenken. Dieser Prozess wird weiter vertieft werden. Ich bin sicher, dass eines baldigen Tages die Dinge anders ausschauen werden. Dann werden die alten Werte wieder geschätzt.

Gibt es auch in der westlichen Welt Schamanen?

Auf Schritt und Tritt. Schamane zu sein ist ja eine urmenschliche Eigenschaft. Ja, nicht nur eine menschliche. Die Katzen und Hunde haben ja auch ihr Wissen - Instinkt genannt. Und schauen Sie mal auf die Blumen. Wenn die Sonne aufgeht, machen sie sich auf, wenn es zu stürmen beginnt, dann bringen sie sich in eine Schutzhaltung. Das geht alles von der Natur aus. Alles ist in jedem Lebewesen drin. Aber der westliche Mensch hat ja alles vernachlässigt und anderen übertragen. Freilich hat es immer Menschen gegeben, die dagegen bewusst angingen. Das sind Künstler. Ich definiere als Schamane Rembrandt, Goethe, Mozart, Beethoven, Albert Einstein und so weiter. Alles Menschen mit sehr wachem Erkennen und feurigem Herzen. Die haben das Schicksal angegangen und die haben es geschafft.

Welche besonderen Kräfte haben Schamanen?

Die sind mutig. Die schämen sich nicht. Die verachten das Durchschnittliche, das Lauwarme. Die wollen ihre Welt selber erschaffen. Und so werden sie zum Mitschöpfer im Universum.

Wie sehen Sie die westliche Schulmedizin?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Schulmedizin ist eine gute Sache, ohne sie kann die Menschheit nicht mehr bestehen. Ich selbst nutze ja auch schulmedizinische Erkenntnisse. Aber da muss man unterscheiden zwischen Medizinern und Ärzten. Es gibt immer noch die Ärzte im althergebrachten Sinne. Das sind die, die für ihre Patienten glühen, mit ihnen leiden und sich für sie freuen. Aber dann gibt es Technokraten. Das sind Mediziner, die die Leute nicht anfassen. Die sie kalt nur verhören, das dokumentieren und dann bestenfalls irgend ein Medikament verschreiben. Gegen diese Art von Schulmedizin bin ich natürlich.

Was heißt für Sie Fortschritt?

Wir müssen das ganz wörtlich nehmen. Fort schreiten - wovon? Von den Wurzeln weggehen, sich von den Wurzeln entfernen. Ein bisschen vorwärtskommen ist schön, aber nicht dauernd. Nicht diese endlose Kletterei.

Das Interview führte Andrea Herdegen.

ZUR PERSON: GALSAN TSCHINAG

Der Schriftsteller und Schamane Galsan Tschinag wurde Anfang der 1940er Jahre im Altaigebirge bei den Tuwa-Nomaden der Westmongolei geboren. Er wächst in einer Jurte auf, seine erste Lehrerin íst eine Schamanin. Von 1962 bis 1968 studiert Tschinag Germanistik in Leipzig, die meisten seiner Bücher schreibt er deshalb auf Deutsch. Seine bekanntesten Romane "Der blaue Himmel" und "Die Rückkehr" befassen sich mit dem Nomaden-Leben und dem Zerbrechen alter Strukturen und Traditionen in der Mongolei. Je ein Drittel des Jahres verbringt er in seiner Residenz in Ulan Bator, in Europa und in der westmongolischen Steppe bei seinem Stamm. 1995 führte Tschinag die Tuwa-Nomaden, die in den Sechzigerjahren zum Teil zwangsumgesiedelt wurden, über 2000 Kilometer zurück in ihre angestammte Heimat im Hohen Altai. 2002 erhielt der Autor das deutsche Bundesverdienstkreuz.

Galsan Tschinag liest am Montag in Hof aus seinen Büchern und erzählt von seiner Heimat. Die Veranstaltung findet um 19 Uhr in der Buchgalerie im Altstadt-Hof statt.

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Interview

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Zur Person

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Der Schriftsteller und Schamane Galsan Tschinag wurde im Altaigebirge bei den Tuwa-Nomaden der Westmongolei geboren. Von 1962 bis 1968 studiert Tschinag Germanistik in Leipzig, die meisten seiner Bücher schreibt er deshalb auf Deutsch. Seine bekanntesten Romane "Der blaue Himmel" und "Die Rückkehr" befassen sich mit dem Nomaden-Leben und dem Zerbrechen alter Strukturen und Traditionen in der Mongolei. 2002 erhielt der Autor das deutsche Bundesverdienstkreuz.

Galsan Tschinag liest am Montag in Hof aus seinen Büchern und erzählt von seiner Heimat. Die Veranstaltung findet um 19 Uhr in der Buchgalerie im Altstadt-Hof statt.

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Der Schriftsteller und Schamane Galsan Tschinag wurde im Altaigebirge bei den Tuwa-Nomaden der Westmongolei geboren. Von 1962 bis 1968 studiert Tschinag Germanistik in Leipzig, die meisten seiner Bücher schreibt er deshalb auf Deutsch. Seine bekanntesten Romane