Atomarer Gau Wie groß ist die Gefahr eines Unfalls im AKW Saporischschja?

Markus Brauer/

Europas größtes Atomkraftwerk steht im südukrainischen Frontgebiet und ist von russischen Soldaten besetzt. Die Reaktoren sind heruntergefahren, müssen aber technisch betreut und überwacht werden. Der vertriebene Bürgermeister fürchtet eine Katastrophe.

 
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Dmytro Orlow, Bürgermeister der von russischen Soldaten besetzten ukrainischen Kraftwerksstadt Enerhodar, sitzt in seinem Büro in Saporischschja vor einer Karte der Ukraine. Foto: dpa/Oliver Weiken

Der Bürgermeister der von russischen Soldaten besetzten ukrainischen Kraftwerksstadt Enerhodar warnt vor einem wachsenden Risiko atomarer Unfälle im frontnahen Atomkraftwerk Saporischschja.

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„Die Befürchtung wird mit jedem Tag größer, weil es gleich mehrere gefährliche Faktoren gibt“, sagt Dmytro Orlow. Er übt seine Funktion als Leiter einer zivil-militärischen Verwaltung von der namensgebenden Großstadt Saporischja im Süden der Ukraine aus und hat Enerhodar – die Werkssiedlung der Anlage – nach der Besetzung durch russische Soldaten verlassen.

Wie groß ist die Gefahr einer technischen Katastrophe?

Dmytro Orlow warnt vor einem wachsenden Risiko atomarer Unfälle im frontnahen AKW Saporischschja. Foto: dpa/Oliver Weiken
Willkommens-Logo des AKW Saporischschja in der von russischen Soldaten besetzten ukrainischen Kraftwerksstadt Enerhodar. Foto: Imago/Itar-Tass
Lage des AKW im Süden der Ukraine. Foto: dpa-/infografik

Groß sei die Gefahr einer technischen Katastrophe, warnt Orlow. „Das Kraftwerk muss nun von außen versorgt werden und allein seit September gab es sechs Zwischenfälle, bei denen die Stromversorgung unterbrochen wurde. In den 40 Jahren zuvor gab es keinen einzigen solchen Zwischenfall.“

Von den vor Kriegsbeginn rund 53 000 Einwohnern leben nach Angaben des 38-Jährigen inzwischen noch etwa 10 000 Menschen in der Stadt. Von den einst 10 000 Beschäftigten der Kraftwerksanlagen sei bloß noch jeder Fünfte dort. Die russischen Besatzer hätten Mitarbeiter mit Drohungen und Misshandlungen bis hin zu Folter schikaniert. Nun fehle es an qualifizierten Experten, da Russland keinen Ersatz gestellt habe.

Wie groß ist die Gefahr der Militarisierung der Anlage?

Auf diesem während einer vom russischen Verteidigungsministerium organisierten Reise aufgenommenen Foto bewacht ein russischer Soldat einen Bereich des Kernkraftwerks. Foto: AP/dpa

Die Militarisierung der Atomanlage inmitten der Kämpfe sei eine Gefahr an sich. „Russland hat die Anlage zu einem Militärlager ausgebaut, in dem 1000 Mann ständig vor Ort sind.“

Russland hatte Anfang März 2022 die Einnahme des AKW Saporischschja verkündet. Das mit sechs Reaktoren größte Atomkraftwerk Europas liegt im umkämpften Gebiet nahe der Front. Die Reaktoren sind schon seit September 2022 heruntergefahren. In der Nähe der Anlage gibt es immer wieder Kämpfe.

Wie groß ist die Gefahr eines Kühlwassermangels?

Eine Muschel liegt auf einem Stück Boden, das nach dem Bruch des Dammes Kachowka ausgetrocknet ist. Der Damm in der von russischen Truppen besetzten Stadt Nowa Kachowka war am 6. Juni zerstört worden. Foto: dpa/Oliver Weiken
Der Staudamm, aus dessen Stausee das Kühlwasser für das AKW abgezapft wurde, wurde im Krieg zerstört. Nun drohe Kühlwassermangel im verbliebenen Rückhaltebecken und eine gefährliche Kombination verschiedener Risikofaktoren Foto: Imago/Itar-Tass
Dieses von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt das Kernkraftwerk Saporischschja. Foto: Maxar Technologies/AP/Uncredited/dpa

Der Staudamm, aus dessen Stausee das Kühlwasser für das AKW abgezapft wurde, wurde im Krieg zerstört. Nun drohe Kühlwassermangel im verbliebenen Rückhaltebecken und eine gefährliche Kombination verschiedener Risikofaktoren, erklärt Orlow.

Laut dem jüngsten Lagebericht der IAEA haben die russischen Besatzer die Versorgung mit Kühlwasser jedoch wieder weitgehend sichergestellt, indem unter anderem Grundwasserbrunnen gegraben wurden.

Was passiert, wenn die Reaktoren beschädigt werden?

Die Zerstörung der externen Stromversorgung der Anlage könnte im schlimmsten Fall zu einer Kernschmelze führen. Foto: Imago/Itar-Tass
Blick auf Block 1 des Kernkraftwerks. Foto: XinHua/Victor/dpa

„Grundsätzlich sind militärische Angriffe nicht Teil des Designs von Kernkraftwerken“, erläutert der Risikoforscher Nikolaus Müllner von der Universität für Bodenkultur in Wien. Kernkraftwerke seien so gebaut, dass sie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürzen oder Terrorattacken standhalten können. Schutz gegen gezielte militärische Zerstörung sei kaum möglich.

Ist das AKW ausreichend geschützt?

Von den vor Kriegsbeginn rund 53 000 Einwohnern leben nach Angaben des 38-Jährigen inzwischen noch etwa 10 000 Menschen in der Stadt. Von den einst 10 000 Beschäftigten der Kraftwerksanlagen sei bloß noch jeder Fünfte dort. Foto: Imago/Itar-Tass
Dieses von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt das Kernkraftwerk Saporischschja. Foto: Maxar Technologies/AP/dpa

Saporischschja ist durch einen getrennten Kühlkreislauf und eine besondere Schutzschicht besser geschützt als die zwei Unfall-AKW Tschernobyl (Ukraine) und Fukushima (Japan).

Ein Beschuss der Anlage müsse also nicht zwangsläufig zu einem kerntechnischen Unfall führen, berichtet Atomtechnik-Experte Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). „Damit es zu einem solchen Unfall kommt, muss das Kühlsystem beschädigt sein.“

Die sicherheitstechnisch wichtigen Anlagen in der Ukraine seien in geschützten Gebäuden untergebracht, so Stransky weiter. „Sie würden einem Beschuss durchaus standhalten können. Das hängt allerdings auch von der Schwere des Beschusses ab.“ Der Reaktor selbst werde von einer Stahlbetonhülle geschützt, der einen Absturz eines kleinen Flugzeugs aushalten könne.

Welche Folgen hätte ein Stromausfall?

Saporischschja ist im Hintergrund des flachen Kachowka-Stausees nach der Zerstörung des Staudamms zu sehen. Foto: Kateryna Klochko/AP/dpa
Das von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA zur Verfügung gestellte Handout zeigt IAEA-Experten bei der Ankunft in Saporischschja. Foto: D. Candano Laris/IAEA/dpa

„Selbst wenn er beschädigt ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es zu einem kerntechnischen Unfall kommt“, führt Sebastian Stransky weiter aus. Erst wenn dauerhaft der Strom ausfallen und das gesicherte Kühlwassersystem versagen würde und auch sämtliche Notstromaggregate ausfallen würden, würde es letzten Endes zu einem Ausfall der Nachkühlung kommen. Dies könne zu einer Kernschmelze führen.

Die Zerstörung der externen Stromversorgung der Anlage könnte laut Müllner im schlimmsten Fall zu einer Kernschmelze führen. Falls die Notfallgeneratoren vor Ort intakt bleiben, lassen sich die Reaktoren noch einige Tage weiterkühlen. Wenn auch diese Aggregate oder die Dieselvorräte für ihren Betrieb zerstört werden, bleiben laut Müllner maximal 15 Stunden bis zum Atomunfall.

Welche weitere technischen Probleme können auftreten?

Eine weitere Gefahr drohe durch Beschädigung von Dampfleitungen. Auch in diesem Fall sei das Kühlsystem in Gefahr. Die IAEA warnt außerdem davor, dass Sicherheitssysteme des AKW zerstört werden könnten und dass Einsatzpläne für den Fall eines Atomunfalls im Gefecht nicht mehr greifen. Seit dem Beschuss sind in Saporischschja bereits einige Strahlenmessgeräte defekt.

Wie groß ist die Gefahr durch die Zwischenlager?

Auf dem Kraftwerksgelände gibt es auch noch ein Zwischenlager. Derzeit lagern auf dem Werksgelände rund 40 Tonnen angereichertes Uran und 30 Tonnen Plutonium.

Dem ukrainischen Betreiber Enerhoatom zufolge befinden sich unter freiem Himmel zudem 174 Container mit jeweils 24 abgebrannten Brennelementen. Direkte Artillerietreffer könnten demnach so etwas wie eine „schmutzige Atombombe“ erzeugen.

Was würde im Fall einer Kernschmelze passieren?

Auf dem Kraftwerksgelände gibt es auch noch ein Zwischenlager. Derzeit lagern auf dem Werksgelände rund 40 Tonnen angereichertes Uran und 30 Tonnen Plutonium. Foto: Imago/Itar-Tass
Dieses von Planet Labs PBC zur Verfügung gestellte Foto zeigt Saporischschja aus der Vogelperspektive. Foto: Planet Labs PBC/AP/Uncredited/dpa

Der schlimmste Fall tritt ein, wenn einer der Reaktorblöcke zerstört wird oder es aufgrund eines mehrfachen Stromausfalls zu einer Kernschmelze kommt. Versagen die Generatoren, würden die Brennstäbe bereits nach 90 Minuten gefährlich hohe Temperaturen erreichen – samt Kernschmelze.

Normalerweise erzeugen die Brennstäbe Hitze, welche von einem ersten Wasserkreislauf im Reaktor aufgenommen wird. Über Rohre wird die Wärme in einen zweiten Wasserkreislauf abgeleitet, es wird Dampf erzeugt. Dieser treibt eine Turbine an, die wiederum den Strom erzeugt. Auch Reaktoren, die nicht aktiv Strom erzeugen, müssen weiter gekühlt werden.

Kommt es zur Kernschmelze, kommt das Kühlwasser nicht in Kontakt zur Außenwelt – eigentlich. Denn bricht die Stromversorgung des AKW zusammen, und damit auch die Kühlversorgung, entsteht im Reaktor ein Überdruck. Kann dieser nicht über Ventile abgelassen werden, könnten die Reaktoren zerstört werden.

Welche radioaktiven Stoffe würden bei einer Kernschmelze freigesetzt?

Wolfgang Raskob vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) geht davon aus, dass im Falle eines größeren Atom-Unfalls wohl dieselben Stoffe freigesetzt würden wie einst 1986 in Tschernobyl. Einige radioaktive Formen dieser Stoffe – etwa von Cäsium, Strontium und Iod - oder deren Verbindungen sind neben der Strahlengefahr auch noch giftig.

Was wären die Folgen einer radioaktiven Verseuchung?

Das hätte vor allem verheerende Folgen für die Ukraine. Aber auch anliegende Nachbarländer wie Belarus, Polen, die baltischen Staaten, Moldawien, Rumänien, Bulgarien und auch Russland könnten unter der austretenden Strahlung leiden.

Experten gehen davon aus, dass in diesem Fall das Land in einigen hundert Kilometern Umkreis unbewohnbar werden würde. Die Ausdehnung hängt auch von der Windrichtung ab – bei dem häufig herrschendem Ostwind könnte die Radioaktivität nach Russland und Kasachstan getragen werden, bei anderer Windrichtung wäre auch ein Herüberwehen nach Mittel- und Westeuropa möglich.