Aus der Region Ministerpräsidenten feiern den Tag der Freiheit

Markus Söder und sein sächsischer Kollege Michael Kretschmer feiern an der einstigen Grenze den Tag der Deutschen Einheit. An einem Ort, mit dem eine gruselig-bizarre Geschichte verbunden ist.

 
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Heinersgrün/Hof - "Bravo Maria!" Die Oelsnitzerin Brigitte Wunderlich klatscht und ist froh, dass Maria, die 79-jährige Heinersgrünerin, gegenüber Markus Söder die richtigen Worte hinter der Maske gefunden hat, und sie klatscht. Jawohl. "Den hatte sich ein Wessi unter den Nagel gerissen. Jetzt gehört er wieder uns!", hatte Maria Schmidt dem bayerischen Regierungschef klargemacht. Sie spricht vom Wachturm, den einer aus dem Westen nach der Wende gekauft hatte und verrotten ließ. Jetzt ist er wieder in der Hand des Vogtlandkreises und wird saniert. Söder? Der kann da nur nicken.

Es ist Tag der Deutschen Einheit. Die Sonne hat sich mühsam erhoben, das Grün knallt. Nur Grün. Überall. Eine Traube Menschen steht mittendrin; dort, wo einst Gewehre und Minen jeden töten sollten, der es in der DDR nicht mehr aushielt. "Einheitsfrühstück" nennt die bayerische Staatskanzlei das Treffen, ein paar Hundert Meter vom Landkreis Hof entfernt.

Söder steht dort, sein sächsischer Kollege Michael Kretschmer, der Hofer Landrat Oliver Bär und dessen vogtländisches Pendant Rolf Keil, ausgewählte Bürger aus der Region und in der Mehrzahl: der Pressepulk. Söder wollte einen Termin, bei dem man etwas spüren, Geschichte fühlen kann - bei all den virtuellen Terminen in diesen Tagen. "Bild" fragt: "Was wünschen Sie Donald Trump, der an Corona erkrankt ist?" Söder räuspert sich - ja sicher, er wünsche jedem Kranken baldige Genesung. Und nein, er werde nichts zu einer Kanzlerkandidatur sagen. Heute sei man ja da, um "den schönsten Tag der Deutschen Geschichte" zu feiern. Und vergisst nicht, deren üble Brüche zu erwähnen. Maria Schmidt und Brigitte Wunderlich sind die Bürger, die Söder meint, wenn er sagt: "Die Einheit ist den Menschen der DDR zu verdanken." Gorbatschow hin, Kohl her. Maria Schmidt lebte ein halbes Leben an einer Grenze, die Söder immer widersinnig schien, sie erinnert sich noch an ihre Tränen, die sie vergoss. Damals, als sich plötzlich ein Tor öffnete und die Welt größer wurde. Für den jungen Söder war in Richtung Westen erst am Atlantik Schluss. "Dass es nach Osten nach ein paar Kilometern nicht mehr weiterging, das ging mir nie in den Kopf", sagt der Ministerpräsident aus Bayern. Ja, und als die Mauer fiel, als das Fernsehen Bilder zeigte, die viele Westdeutsche für unmöglich gehalten hatten, als die Politiker im Bonner Bundestag aufstanden und die Nationalhymne sangen - ja, "da bin ich auch aufgestanden und habe mitgesummt". Erinnerungen des damals 23-Jährigen Jurastudenten Markus Söder.

"Die Menschen aus dem Osten haben großen Mut bewiesen." Das sagt Kretschmer, der nach hinten deutet. Die Kameras folgen und richten sich auf einen eingerüsteten, altersschwachen Wachturm. "Es sind Menschen gestorben", mehr muss der sächsische Ministerpräsident kaum sagen. Robert Lebegern bringt das Historische, das Bizarre des Staates herbei, der offiziell den Menschen Freiheit schenken wollte. Der Leiter des Deutsch-Deutschen Museum in Mödlareuth weiß genau, wo er steht. Schon deswegen, weil der Zweckverband des Museums den Turm betreuen wird. Am 22. Juli 1978, erklärt Lebegern, starb in der Nähe ein Mann, als er beim Fluchtversuch eine Mine an einem Zaun auslöste. Ein Tod, den es nicht geben durfte. "Die Stasi hat nach der Einäscherung des Mannes mit einem Teelöffel und einem Magneten in der Asche nach Splittern der Mine gesucht." Nichts durfte darauf hinweisen, dass eine "demokratische Republik" ihre Bürger tötet. Ein "großes Unrecht", das ein Ende fand.

Kretschmer hat die Bilder im Kopf, als die Menschen die Mauer einrissen. Das ist jetzt Geschichte. Für den Sachsen eine deutsch-deutsche Geschichte, die Mahnmale in die Gegenwart tragen müsse. 250 000 Euro stecken Sachsen und der Vogtlandkreis in die Sanierung des Turms, in dem Soldaten saßen, die sich im Ernstfall hätten überlegen müssen, ob sie staatshörig sind, ob sie ihr Gewehr entsichern und abdrücken.

Im nächsten Jahr soll der Turm zur Touristenattraktion werden und Besuchern zeigen, dass in dieser gewellten Landschaft, mitten im Grün ein brutales Regime regierte. Das ist vorbei. Gerade mal zwölf Jahre alt war Oliver Bär, als sich Weltgeschichte abspielte, als er "Gänsehaut-Momente" spürte. Direkt vor der Nase des heutigen Hofer Landrates. Wo er am 9. November war, das verschwimmt in der Erinnerung. "Aber wo ich am 10. und 11. war, weiß ich genau. Ich stand mit der Familie auf der Brücke in Rudolphstein und winkte den Menschen in Trabis zu." Und er habe sehr wohl als schon politisch interessierter Junge erfasst, was sich da vor ihm abspielte.

Den Kaffee in den Kannen und die Brezen ignorierend kann sich Söder nicht verkneifen, politisch zu werden. Vieles sei in den vergangenen 30 Jahren geschehen. Die ganze Welt staune darüber, was Deutschland gelungen sei. "Das lassen wir uns nicht schlechtreden. Nicht von einer Partei, die sich Nachfolgepartei nennt. Und auch nicht von den anderen, der AfD!" Der 3. Oktober stehe für Großartiges. Einst war man an der Grenze, und plötzlich in der Mitte Europas. Verbrüdert habe man sich. Sachsen und Bayern verbinde vieles, etwa der Impuls, sich im Dialekt auszudrücken. Jetzt lebe man unter einer Flagge, trotzdem bewahre jeder seine Identität. Fresskörbe wechseln den Besitzer: Söder reicht seinem Kollegen "Karamell-Guadls" und mehr aus bajuwarischer Produktion, der Bayer freut sich über Eierlikör aus Sachsen und Bautzener Senf.

Und das Frühstück? Die auf 1,5 Meter Abstand exakt aufgestellten Bänke bleiben verwaist, die Politprominenz hat an diesem Feiertag Termine über Termine und steigt in die wartenden Wagen. Sachsens Sonne strahlt auf volle Brezelkörbe und leere Tische. Allein die Journalisten freuen sich - mehr Kaffee für sie. Die Limousinen der Ministerpräsidenten rollen weg, und damit die Gesprächspartner. Maria Schmidt geht wieder in ihr Dorf. "Ich hätte Romane erzählen können."

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