Das Ukraine-Tagebuch „...dann könnte der Krieg vorbei sein“

Thomas Simmler Foto: privat

Thomas Simmler erklärt, warum viele Ukrainerinnen vom Frauentag nichts mehr wissen wollen – und weshalb der Widerstand in Bachmut mit einer Gegenoffensive zu tun haben könnte.

 
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Der Krieg hat sich in den Kopf eingenistet. Letzte Nacht gab es wieder Luftalarm. Ich bin davon nicht aufgewacht. Am Morgen danach dachte ich, ich hätte von einer Sirene und irgendwas Schrecklichem geträumt. Ein schneller Blick auf den Computer hat mir gezeigt: Ich hatte nicht geträumt. Das war Realität. Irgendwie nimmt man solche Sachen manchmal nur noch im Unterbewusstsein wahr.

Andererseits schlafe ich längst wieder besser. Eigentlich hatte ich damit in meinem ganzen Leben nie Probleme. Nur in den Monaten in Marhanez war das anders. Dort war die Gefahr am größten, aber vielleicht lag es auch am nahen Atomkraftwerk Saporischschja. Ich weiß es nicht.

In Saporischschja haben sie jetzt die Dieselgeneratoren für die Notversorgung im Akw abgeschaltet. Strom ist wieder vorhanden. Zum Glück. Dass die Russen ihre massiven Angriffe als „Rache“ bezeichnet haben, zeigt einmal mehr, was von ihnen zu halten ist. Man muss sich das vor Augen führen: Sie greifen mit Absicht ein Atomkraftwerk an! Ich hoffe sehr, dass die Ukrainer das Akw bald befreien können. Meiner Meinung nach geben sie Bachmut nicht auf, um dort die russischen Wagner-Truppen zu binden, damit die nicht woanders eingreifen können. Und dann werden sie bei Saporischschja eine Gegenoffensive starten. Wenn die gelingt, könnte der Krieg im Herbst vorbei sein. Wenn nicht,wird das alles noch viele Jahre weitergeht, fürchte ich.

Erst gestern habe ich mit Irina telefoniert. Sie und Sofia sind wohlauf. Aber ihr Lebensrhythmus hat sich geändert. Sie sind abends um acht Uhr im Bett, weil sie nachts häufig vom Luftalarm geweckt werden. Trotzdem sagt Irina immer nur: „Alles normal, alles in Ordnung.“ Dabei weiß auch sie, dass die Russen ganze Stadtteile von Marhanez, die am Wasser liegen, zerstören und das nahe Nikopol kurz und klein bomben.

Vom Frauentag wollen die Frauen in der Ukraine nichts mehr wissen. Der Tag entstand ja 1910 auf Vorschlag der Deutschen Carla Zetkin auf einer Konferenz sozialistischer Frauen. Die Sowjets haben den 8. März später zum Feiertag erklärt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus blieb die Tradition in Russland wie in vielen postsowjetischen Ländern lange Zeit erhalten. Das wichtigste Geschenk waren immer Blumen. Jetzt hat der Krieg alles verändert. Der Frauentag gilt als sowjetisch beziehungsweise russisch. Deshalb wollen ihn die meisten Ukrainerinnen nicht mehr feiern. Zumindest nicht am 8. März.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit über einem Jahr in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Kurort Truskawez im Westen des Landes untergekommen.

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